«Mein Leben ist lebenswert!»

Gerhard Stoll – 31 Jahre gefangen im eigenen Körper

Gerhard Stoll (53) lebt mit dem Locked-In-Syndrom, wird künstlich beatmet und ernährt. Fast vollständig gelähmt kommuniziert er lediglich per Lidschlag – und hat mit seinem Bruder Siegfried ein Buch geschrieben.
Gerhard und Siegfried Stoll (Bild: zVg)
Titelseite «SOS – per Lidschlag – SOS»

Es ist ein Märzabend 1989 im hessischen Kleingladenbach. Gerhard Stoll, damals 22, klagt über heftige Kopfschmerzen und zieht sich in sein Zimmer zurück. Kurz darauf gellt ein Schrei durchs Haus. Gerhards Vater und sein Bruder Siegfried eilen herbei. Die Schmerzen müssen unvorstellbar sein, Gerhard erbricht und wird ohnmächtig.

Aufgrund der verdrehten Augen vermutet die alarmierte Ärztin eine Verletzung im Gehirn. Per Helikopter wird der zweitjüngste von vier Brüdern in die nächstgelegene Universitätsklinik geflogen. Dort bestätigt die Untersuchung eine massive Kleinhirnblutung aufgrund eines Aneurysmas. Mit einer Not-OP retten die Ärzte das Leben des jungen Mannes, sein Kleinhirn ist jedoch nachhaltig geschädigt. Gerhard Stoll fällt für ein halbes Jahr ins Koma. Als er langsam wiedererwacht, ist seine Welt eine andere.

Aufmerksamer Bruder

Nichts geht mehr, nur noch blinzeln. «Bloss Reflexe», heisst es von Seiten der Mediziner; sie machen der tiefgläubigen Familie, die Gerhard täglich besucht und umsorgt, keine Hoffnung. Doch da haben die Ärzte die Rechnung ohne Siegfried Stoll gemacht. Heute ist er Dozent für Naturwissenschaft und Gesundheit sowie Pädagogik, Psychologie und Heilpädagogik. Damals, im Herbst 1989, beobachtet er seinen Bruder ganz genau. Durch einen Blinzeltest findet Siegfried heraus, dass Gerhard bei vollem Bewusstsein ist, also alles registriert, was um ihn herum geschieht. «Dem Arzt fiel die Kinnlade runter», erzählt Siegfried Stoll eindrücklich und ausführlich im Radiobeitrag auf erfplus.de.

Der Sohn eines Pastors wird energisch, wenn er das Schicksal von Locked-In-Patienten schildert. «Im Gegensatz zum Wachkoma sind die Menschen beim Locked-In-Syndrom bei vollem Bewusstsein und in der Lage, ihre Augen willkürlich zu öffnen und zu schliessen. Es ist hochdramatisch, wenn dies nicht erkannt wird, denn anders können sich Betroffene nicht mitteilen.»

Blinzel-Code und Buch

Eine mehrfach bewährte Regel in der Familie Stoll lautet: «Geht nicht, gibt's nicht!» Um kommunizieren zu können, entwickelt sie mit Gerhard einen cleveren Blinzel-Code, teilt das Alphabet in nummerierte Reihen ein. Zuerst bestätigt Gerhard durch Schliessen der Augen die Reihe, in der sich der gewünschte Buchstabe befindet. Dann werden ihm die Buchstaben dieser Reihe laut vorgelesen, bis er beim richtigen Buchstaben erneut die Augen schliesst.

So entstehen mit seinem Bruder Siegfried Wörter, Sätze, Texte – und 2018 ein ganzes Buch. Über zehn Jahre Geduld, Ausdauer und Bruderliebe stecken im 160-seitigen Werk «SOS – per Lidschlag – SOS». In Dialogform mit Siegfried erzählt Gerhard Stoll, wie er kraft seines Glaubens, seiner Familie und des Pflegepersonals mit dem schweren Schicksal umgeht. Lebendig lässt er Jugendjahre aufleben und in sein Heute blicken. Grosse Freude an Kunst, Architektur und Natur schillert in den Zwiegesprächen. Ganz klar: In dem eingeschlafenen Körper wohnt ein hellwacher Geist!

Briefe von Astrid Lindgren

Beide Brüder sind stolz auf die einfühlsamen Briefe von Astrid Lindgren, die im Buch zur Sprache kommen und nebst zahlreichen Familienfotos der Stolls abgebildet sind. Angeregt durch die Geschichte in Lindgrens «Die Brüder Löwenherz» hatte Siegfried Stoll der schwedischen Schriftstellerin geschrieben und ihr die tragische Situation seines Bruders geschildert. Damals lag Gerhard seit einem Jahr in der Klinik. Es entstand ein persönlicher, tiefgründiger Austausch von therapeutischem Wert. Siegfried erhielt nebst Adresse auch die geheime Telefonnummer der berühmten Literatin, die 2002 im 94. Altersjahr starb.

Das nächste Buch von Gerhard Stoll ist in der Pipeline und wird sich dem Thema Humor und innere Stärke widmen. «Humor ist im Leben essenziell – und Gerhard ist ein sehr humorvoller, lebensfroher Mensch», bekräftigt Siegfried Stoll.

«Jesus, hast du mich vergessen?»

Ihm selbst war und ist nicht immer zum Lachen zumute: «Ich hatte jahrelang ein schlechtes Gewissen, dass ich ein normales Leben führen darf.» Siegfried Stoll haderte auch mit Gott, zweifelte an dessen Güte, fragte sich: «Jesus, hast du mich vergessen?» – allesamt schmerzhafte Erfahrungen, die ihm jedoch das Verständnis für schwerstbeeinträchtigte und leidende Menschen schärften. Der Anblick seines Bruders und dessen Hilflosigkeit belastet den Pädagogen noch heute: «Auch nach 31 Jahren kann ich nicht sagen, dass ich mich daran gewöhnt habe, es bleibt ein Arrangieren», bekennt er.

Hilfreicher Hinweis aus der Schweiz

Die Geschichte der Familie Stoll ist ein Paradebeispiel für Inklusion. Nach zweieinhalb Jahren auf der Intensivstation möchten sie ihrem Sohn und Bruder das von Not und Tod geprägte Umfeld nicht länger zumuten. Durch den Kontakt mit einer Ärztin aus der Schweiz erfährt Siegfried Stoll von mobilen Beatmungsgeräten. Mit Freunden und Bekannten erweitert die Familie das Elternhaus durch einen Anbau – und holt Gerhard nach Hause. In seinem kleinen Reich leisten Fachkräfte eines Vereins rund um die Uhr intensivmedizinische Pflege und Betreuung. Gleichzeitig ist Gerhard mit seiner Familie verbunden und nimmt, wo immer möglich, am gesellschaftlichen Leben teil.

Starke Familienbande

«Mein Leben ist lebenswert», hat Gerhard seinem Bruder Siegfried mehrfach mitgeteilt. Die Dankbarkeit, die er für das Angenommensein, die Hilfe und Geborgenheit seiner ganzen Familie empfindet, geht weit, sehr weit. Siegfried Stoll wird die folgenden Worte nie vergessen, die Gerhard der Mutter diktiert hat: «Es ist gut, dass es mich getroffen hat und nicht Siegfried. Hätte es ihn getroffen, könnte ich niemals all das leisten, was er für mich tut!»

TV-Beitrag von ERF Medien ab 14. Mai 2021 in der Mediathek von erf.de und auf Youtube, am 15. Mai 2021, 19.30 Uhr auf Bibel TV

Zur Webseite:
Buch «SOS – per Lidschlag – SOS» kaufen
Fotobilderbuch «Ole backt Pflaumenkuchen – Drei erstaunliche Bärengeschichten» von Siegfried Stoll
Webseite von Siegfried Stoll

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Datum: 15.05.2021
Autor: Manuela Herzog
Quelle: Jesus.ch / ERFplus

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