Rekordverdächtig

70 Jahre als Sonntagsschullehrerin gewirkt

Ein Sonntagsschulleben für Kinder: Elisabeth Stierli erzählte in Urdorf während sieben Jahrzehnten Geschichten aus der Bibel.
Elisabeth Stierli

Nein, auf dem Buckel trägt sie die 70 Jahre als Sonntagsschullehrerin nicht. Sie sind eher in ihren Augen zu finden. Mit wachem und freundlichem Blick, aufrecht und agil öffnet Elisabeth Stierli mir die Tür zu ihrer hellen Wohnung. Deren Bücher, Bilder und Nippes zeugen von den Aktivitäten der vielseitigen 88-Jährigen. Als Hauspflegerin kam sie in zahlreiche Urdorfer Stuben, als Chefinstruktorin des Samariterbunds unterrichtete sie in höheren Schulen und als Werkstattleiterin einer Stiftung lehrte sie Behinderte handwerkliche Tätigkeiten. Heute betreut sie im lokalen Altersheim Betagte: «Ich pflege einfach so gerne!» In allen Jahrzehnten blieb sie ihrem Engagement als Sonntagsschullehrerin treu. «Ich hatte die Kinder immer gerne und musste nie mit ihnen schimpfen, darum sind sie auch immer gerne zu mir gekommen», sagt Elisabeth Stierli.

Die erste Klasse im Frühling 1944

Begonnen hat es im Kriegsfrühling 1944. Der Anfang war alles andere als leicht. «Meine Fünftklass-Buben spielten im Zimmer mit Zigaretten. Ich überlegte, was ich tun könnte, denn schimpfen ging nicht», berichtet Elisabeth Stierli. «Ich forderte die Buben auf, mit allen Zigaretten auf dem Tisch einen See und ein kleines Schiff zu bauen. Sie machten eifrig mit und lauschten darauf der Geschichte vom Schiff im Sturm. Am Schluss nahmen sie die Zigaretten vom Tisch und gingen heim.» In der nächsten Stunde warfen die Buben ihre Mützen durchs Zimmer. Diesmal liess die jugendliche Leiterin auf Vorschlag eines Buben einen Mützen-Turm bauen, dankte darauf im Gebet vor den Kindern für die eingekehrte Ruhe und erzählte ihre Geschichte. Zuhause sagte sie zu ihrem Vater: «Ich höre auf!» Aber dieser bestand darauf, dass sie es gut gemacht habe. Von der dritten Stunde an waren die Buben anständig – und einige kamen sogar an die Konfirmation ihrer Lehrerin.

Nichts könnte das pädagogische Geschick von Elisabeth Stierli besser veranschaulichen als diese Anekdote. So konnte sie im Laufe der Jahrzehnte Generationen von Kindern die Erzählungen der Bibel nahe bringen. Im Mittelpunkt standen für sie die kleinen Zuhörer, deren Gefühle sie ernst nahm, die sie klar und direkt ansprach und für einen respektvollen Umgang sensibilisierte, ohne sie je blosszustellen.

Zentral war für die heute 88-Jährige jede Geschichte, die sie jeweils während einer ganzen Woche verinnerlichte, auswendig lernte und mit geeigneten Gegenständen in der Mitte des Raums veranschaulichte. Die Kinder bezog sie stets mit ein: «Wie würdet ihr reagieren, was könnte nun geschehen?», fragte sie. Da sie die Kinder fest im Blick hatte, nahm sie wahr, ob eines Freude oder Angst empfand. «Dann wählte ich ein passendes Lied aus und wir sangen, bis es besser wurde mit der Angst.»

Geschichten als Lebenshilfe

Die Veränderungen bei den jüngeren Generationen hätten ihr selbst nie Angst gemacht, sagt sie. Dass «früher alles besser war», glaubt sie nicht. Sie selber lässt die technologischen Neuerungen links liegen. Wichtiger sind ihr Geschichten und Lieder, diese «bleiben immer bestehen.» In ihre Haltung mischt sich weder moralischer Eifer noch dogmatische Härte. Sie kann nicht anders, als innig und liebevoll zu erzählen, menschenfreundlich zu wirken und ihrem Tun einige Prisen Humor beizufügen. Ihre Vision? Sie überlegt eine Weile: «Junge Menschen wissen oft nicht, was für sie das Beste ist. Darum nehme ich Geschichten aus der Bibel, um zu zeigen, wie man leben könnte, wo man in Einsamkeit und Not Hilfe holen kann.»

Kann eine solche Sonntagsschullehrerin loslassen? «Nein», gesteht Elisabeth Stierli. «Aber da wurde ich krank und verstand meine Krankheit als Zeichen von oben, das mich aufforderte, die ganze Arbeit in jüngere Hände zu übergeben.» Zurück bleiben Fotowände von dankbaren Kindern und gelungenen Weihnachtsfeiern im Stall sowie Fotoalben mit Lagerlebnissen. Leicht vergilbt, aber keineswegs vergessen. Die Spuren von Elisabeth Stierlis Wirken bleiben sichtbar: In Urdorf gibt es auch heute noch eine Sonntagsschule.

Die Sonntagsschule in der Schweiz

Die Sonntagsschule, im Jahr 1780 vom britischen Sozialreformer Robert Raikes gegründet, breitete sich Mitte des 19. Jahrhunderts von der Romandie her in der Schweiz aus. Aber erst im Jahr 1967 hielt die Kirchenordnung der Reformierten Landeskirche fest, die Organisation der Sonntagsschule sei Aufgabe der Kirchenpflege. Bereits ab 1960 sanken jedoch die Schülerzahlen stetig; das Interesse an Sonntagsanlässen schwand. Die Landeskirchen reagierten mit neuen Angeboten für Schulkinder meist unter der Woche und mit besonderen Gefässen für Familien. In Freikirchen ist der biblische Unterricht am Sonntag noch verbreitet. 

Dieser Artikel stammt aus der Verteilzeitschrift der SEA «Viertelstunde für den Glauben».

Die Viertelstunde für den Glauben können Sie unter folgender Adresse bestellen:
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Datum: 07.12.2015
Autor: Madeleine Stäubli-Roduner
Quelle: SEA / Viertelstunde für den Glauben

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