Weltanschauung

Wie Gott die Welt sieht

Gemäss der Bibel sieht Gott. Er hat somit auch eine Weltsicht – eine Weltanschauung. Das Sehen ist dem Psalmisten selbstverständlich, denn: «Der das Auge bildet, sollte der nicht sehen?» heisst es in Psalm 94. Das hat eine doppelte Bedeutung.
Drei Kreuze
Gott sieht in das Verborgene.

Diese Argumentation will uns nicht einen vermenschlichten Gott suggerieren, sondern denkt «von Gott her». Der Psalmist versteht sich als Teil der Offenbarung Gottes, der den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat. Gottes Weltanschauung wird in der Bibel als umfassend dargestellt. Ich würde sie nicht «objektiv» oder «neutral» nennen. Bisweilen meinen Menschen, in ihren Überlegungen einen so genannten Gottesstandpunkt einnehmen zu können. Dabei verkennen sie aber ihre eigene raum-zeitliche Begrenzung, die jede menschliche Sichtweise perspektivisch macht. Dies gilt auch für die Theologie – die Auslegung der Bibel. Und ebenso für die folgenden Ausführungen, in denen unter vier Aspekten die umfassende Weltanschauung Gottes entfaltet werden soll.

1. Gott sieht alles

In der poetischen Sprache der Bibel gesagt: «Gott schaut bis zu den Enden der Erde, er sieht alles, was unter dem Himmel ist» (Die Bibel, Hiob, Kapitel 28, Vers 24). Diese All-Sicht oder Allwissenheit wird in verschiedene Richtungen zugespitzt:
 
•    Der Autor von Psalm 94,7 warnt insbesondere diejenigen, die «sagen: Der Herr sieht es nicht». Gott wird von uns über jedes unnütze Wort Rechenschaft fordern (Matthäusevangelium, Kapitel 12, Vers 36). Diese Verse dienen nicht als Erziehungsgrundsatz, um Kinder mit dem allwissenden Richtergott einzuschüchtern. Vielmehr gelten sie mündigen Erwachsenen, die bewusst Gottes Sicht in Frage stellen. Doch Gott sieht alles, und wir Menschen können ihm nicht entrinnen (Psalm 139, Vers 7). Dies zumindest ist Gottes Weltanschauung. Nietzsches «toller Mensch» verkündet demgegenüber den Tod Gottes bzw. dessen Ermordung durch die Menschen. Er predigt damit eine heute weit verbreitete menschliche Weltanschauung. Aber auch dieser theoretische oder praktische Atheismus kann die Erde nicht von der Sonne losketten. Subjektiv empfinden Menschen zwar diese von Nietzsche angekündigte Freiheit und Verlorenheit, gemäss der Bibel aber sieht Gott alles, auch den Menschen, der vor ihm flieht oder ihn zu erschlagen sucht!

•    Gott ist bei jedem Spatzen, der zu Boden fällt und hat jedes Haar auf den menschlichen Köpfen gezählt – «fürchtet euch also nicht» (Die Bibel, Matthäus, Kapitel 10, Verse 29-31)! Gott sieht alles und sorgt sich darum. Das ist für Christinnen und Christen Grund zu mutiger Nachfolge und treuem Christuszeugnis, auch wenn es menschlich gesehen etwas kostet. Ebenso ist es Grund für unablässiges Gebet, Bitte und Dank, denn Gott sieht und sorgt (Philipper-Brief, Kapitel 4, Vers 5 sowie 1. Petrus-Brief, Kapitel 5, Vers 7).

2. Gott sieht das Böse und das Gute

«Die Augen des Herrn sind überall, sie wachen über Böse und Gute» (Sprüche 15, Vers 3).
Diese umfassende Weltanschauung Gottes fällt uns Menschen oft schwer. Manchmal halten wir uns an 1. Mose , Kapitel 1, Vers 31: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und sieh, es war sehr gut.» Wir geniessen – bis zum Exzess. Wir sind Optimisten – über alle Massen. Denn der Mensch ist gut, zumindest im Kern. Manchmal halten wir uns aber auch an 1. Mose 6,12: «Gott sah die Erde, und sieh, sie war verdorben.» Wir ziehen uns zurück – ins selbstgemachte Ghetto. Wir sind Pessimisten – über alle Massen. Denn der Mensch ist verderbt, in Sünden geboren, abgrundtief gefallen.

Gott sieht Böses und Gutes: Er sieht sein halsstarriges Volk Israel (2. Mose, Kapitel 32, Vers 9), und er sieht diejenigen, die ihn fürchten (Psalm 33, Vers 18) und deren Herz ungeteilt ihm gehört (Die Bibel, 2. Chronik, Kapitel 16, Vers 9; vergleiche auch 15,17.19!). Gottes Weltanschauung ist umfassend: Er sieht den Frevel (Hiob 11, Vers 11), und kein gutes Werk ist umsonst (1. Korintherbrief, Kapitel 15, Vers 58).

Als Menschen haben wir nicht Gottes umfassende Weltanschauung, aber wir können uns davon zu Differenzierungen anleiten lassen, Pauschalurteile vermeiden, Menschen und die Natur weder verteufeln noch vergöttlichen. Wir können die Welt etwas mehr mit Gottes Augen anschauen: Er sieht das Böse und das Gute.

3. Gott sieht das Verborgene

Hier wird der Gegensatz zwischen Gott und Mensch in der Bibel ausdrücklich genannt: «Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an» (1. Samuel, Kapitel 16, Vers 7). Gott sieht umfassend, auch unter die Oberfläche – in ganz verschiedene Richtungen:

•    Gott hat das Elend seines Volkes in Ägyptens Sklaverei gesehen (2. Mose, Kapitel 3, Vers 7), ein Elend, das wohl damals in keiner Zeitung zu finden war. Gott sah, was den meisten damals lebenden Menschen von China bis Amerika verborgen blieb. Gott sieht bis heute «Unheil und Kummer» (Psalm 10, Vers 14) von Flüchtlingen und Firmenbossen, von Kriegswaisen und Wohlstandsverwahrlosten, von allen, die sagen «Ja, mir geht es gut» und gleichzeitig innerlich heulen.

•    Gott sieht die Verlorenheit der Menschen. Sie sind «wie Schafe, die keinen Hirten haben» (Matthäusevangelium, Kapitel 9, Vers 36). Menschlich gesehen lebte Jesus damals in einer ganz normalen Gesellschaft mit Armen und Reichen, Arbeit und Feierabend, Geburten und Beerdigungen. Aber er sah die dahinter verborgene Verlorenheit. Gott sieht das Herz – und auch die Sünde, die dort entsteht (Matthäusevangelium, Kapitel 15, Vers 19). 

•    Ebenso sieht Jesus den Glauben im Herzen: Glauben, der dazu führt, dass Menschen unverblümt ein Dach abdecken (Matthäusevangelium, Kapitel 9, Vers 2), inständig bitten (Matthäusevangelium, Kapitel 15, Vers 28), verzweifelt weinen (Lukasevangelium, Kapitel 7, Vers 50) oder auch den Glauben, der verborgen bleibt (Lukasevangelium, Kapitel 8, Vers 48). Der Glaube kann klein sein wie ein Senfkorn oder schwach wie ein glimmender Docht. Gott sieht ihn. Gott sieht das Herz.

Gott sieht aber auch das, was Menschen verbergen: Verborgene Untaten wie die korrupten Machenschaften Ahabs, um Nabots Weinberg zu erhalten (1. Könige, Kapitel 21) oder Davids Ehebruch und die anschliessenden Vertuschungsversuche (2. Samuel, Kapitel 11). Er sieht aber auch verborgene Guttaten für andere (Matthäus, Kapitel 6, Verse 1-4). Gott sieht die Talente, die wir verbergen (Matthäusevangelium, Kapitel 25, Vers 25) – aus Angst oder Bequemlichkeit. Gott sieht den Gottesdienst am Nächsten, der den Gerechten selbst verborgen ist (Matthäusevangelium, Kapitel 25, Verse 37-40).

Das Gebet von Elisa für seinen Knecht ist richtungsweisend: «Herr, öffne ihm doch die Augen, dass er sieht» (2. Könige, Kapitel 6, Vers 17). So konnte er die Engel sehen, die menschlichen Augen verborgen waren – und vertrauen. So können wir mit Gottes Augen das Verborgene in unserer Welt sehen – auch unsere Hoffnung, unser Erbe sowie Gottes unendliche Kraft (Epheserbrief, Kapitel 1, Verse 18-19).

4. Gott sieht und handelt

Gottes Weltanschauung ist umfassend. Seine Weltanschauung ist nicht eine theoretische Grösse für den Hörsaal, ein Gegenstand für philosophische Zirkel oder ein Thema für gemütliche Kaminfeuergespräche. Gott sieht die Welt an und handelt entsprechend:
 
•    «Der Herr schaut von seiner heiligen Höhe herab, blickt vom Himmel auf die Erde, das Stöhnen der Gefangenen zu hören, die dem Tod Geweihten zu befreien» (Psalm 102, Verse 20-21). Die Psalmisten wissen darum, dass Gottes Sicht umfassend ist, dass sein Sehen zum Handeln führt; darum beten sie in der Not: «Sieh mich an» (Psalm 13, Vers 4)! Es ist die Ur-Erfahrung des Volkes Israel von Ägypten her: Gott sah das Elend, erbarmte sich und errettete es aus der Sklaverei (2. Mose, Kapitel 3, Verse 7-8). Parallel dazu erzählt Jesus vom so genannten barmherzigen Samariter: Er sah den Mann, der unter die Räuber gefallen war, erbarmte sich und half ihm (Lukasevangelium, Kapitel 10, Verse 33-34) – uns zum Vorbild. Unsere Weltanschauung soll so umfassend sein wie diejenige von Gott: Not wahrnehmen, uns erbarmen und helfen. Das ist Nächstenliebe.

•    Gott sieht auch die Sünde (siehe oben) – und es ist die Bitte des alttestamentlichen Beters, dass Gott auch hier entsprechend handelt: «Der Herr möge es (den Mord) sehen und Rechenschaft fordern» (2. Chronik, Kapitel 24, Vers 22)! Denn Gott ist gerecht – er ist eben nicht wie Menschen: «Gefällt es dir zu unterdrücken, das Werk deiner Hände zu verachten und den Plan der Frevler gelingen zu lassen? Hast du Menschenaugen und siehst du wie ein Sterblicher» (Hiob, Kapitel 10, Verse 3-4)? Wir sehen auf dieser Welt genügend menschliche Gleichgültigkeit und Machtlosigkeit gegenüber allem Frevel und Bösen. Dagegen hält der fromme Hiob im Vertrauen gegen alle Macht des Faktischen an Gottes Weltsicht fest: «Du hast nicht Menschenaugen; du siehst Unrecht und lässt es nicht obsiegen; du bist gerecht, Gott!» – Gott sieht entsetzt, dass niemand auf Erden Recht schafft; darum stürzt er sich selbst als Kriegsmann in den Panzer der Gerechtigkeit und überwindet das Böse (Jesaja, Kapitel 59, Verse 15-20). 

•    Im Neuen Testament wird deutlich, dass Gott diese Gerechtigkeit durch Jesus Christus schafft: Er schlägt den Sünder nicht tot, sondern trägt dessen Sünde stellvertretend ans Kreuz. Der Gott der Rache und Vergeltung aus Jesaja 59 nimmt die Strafe in Jesus Christus auf sich selber, zahlt das Lösegeld, sühnt die Schuld auf seine eigenen Kosten, schafft Frieden und Versöhnung und kommt den Menschen den ganzen Weg entgegen. «Darum kennen wir von jetzt an niemanden mehr nach dem Fleisch», folgert der Apostel Paulus. Er schaut die Menschen mit Gottes umfassender Weltanschauung des Sehens und Handelns an: «Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen die Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat.» Entsprechend handelt auch Paulus als Gesandter Christi mit der Einladung zur Versöhnung (2. Korinther, Kapitel 5, Verse 16-21).

Gott sieht die Welt als sein Reich. Dazu hat er sie geschaffen. Sie soll ein Ort sein und werden, wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen (Psalm 85, Vers 11). Menschen beten Gott an und gehen auf seinen Wegen. Nichts Böses wird sich Gottes Willen in den Weg stellen. Tod und Tränen sind für immer Vergangenheit (Jesaja, Kapitel 2, Vers 3;  Kapitel 11, Vers 9; Kapitel 25, Vers 8).
 
Weil Gott die Welt so sieht, hat er durch Jesus Christus in heiliger Liebe gehandelt. Und nun lädt er Christinnen und Christen dazu ein, bewegt von seinem heiligen Geist heute ähnlich zu handeln: Den Frieden und die Gerechtigkeit des Evangeliums von Jesus Christus in Wort und Tat zu bezeugen und Zeichen des Reiches Gottes aufzurichten, bis Gott selber es vollendet in Herrlichkeit.
 
Diesen Artikel hat uns das Magazin INSIST  zur Verfügung gestellt.

Der Autor Paul Kleiner (49) ist Theologe und Rektor des Theologisch-Diakonischen Seminars (TDS) Aarau.

Datum: 31.05.2011
Autor: Paul Kleiner
Quelle: Magazin INSIST

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