Mirjam Schilling

Virologin und Theologin: «Das Virus wird bleiben»

Mirjam Schilling ist Virologin und Theologin. Das Virus wird nicht wieder verschwinden, sagt sie. Ein Gespräch über das Impfen, Inzidenzen und die Frage, ob Gott den Menschen mit der Pandemie etwas sagen möchte.
Dr. Mirjam Schilling (Bild: NDM Research Building Oxford)
Buch «Warum erschuf Gott die Viren?»

PRO: Als wir voriges Jahr im Mai miteinander sprachen, gab es die Corona-Pandemie schon ungefähr ein halbes Jahr. Sie haben damals gesagt: Die Pandemie ist noch ganz am Anfang. Ihre Aussage hat mich irritiert, weil ich dachte, es müsste langsam zu Ende gehen. Wann kann man denn damit rechnen?
Mirjam Schilling:
Das kommt darauf an, wie man das «Ende» definiert. Das Virus wird nicht verschwinden. Früher oder später wird es jeden infizieren. Mit dem grossen Fortschritt beim Impfen in den westlichen Ländern stehen die Chancen aber gut, dass wir innerhalb des nächsten Jahres unserem Alltag wieder relativ normal nachgehen können. Für sehr viele Menschen in anderen Ländern wird das noch länger anders aussehen. Deshalb bleibt weiterhin Vorsicht geboten, das Reisen in Länder, wo noch wenige Menschen geimpft sind, könnte schwierig bleiben.

Jetzt ist von der Delta-Variante die Rede. Wie gefährlich ist sie?
Von der jetzigen Datenlage her kann man nicht sagen, dass sie tödlicher ist oder zu schwereren Krankheitsverläufen führt. Sie verbreitet sich aber schneller. Wir kennen jetzt vier Mutanten, davon haben zwei – die brasilianische und die südafrikanische – einen Immunescape-Vorteil. Das heisst, sie konnten sich besser gegen einen bestehenden Immunschutz durchsetzen. Diese indische Delta-Variante hat dagegen einen Fitness-Vorteil, wodurch sie ansteckender ist. Die Impfstoffe wirken gegen sie immer noch gut, aber es ist besonders wichtig, vollständig geimpft zu sein.

Gegenüber dem Impfen gibt es eine grosse Skepsis, auch unter Christen. Ein Grund dafür sind die Nebenwirkungen. Es gab auch Fälle von tödlichen Thrombosen, Herzmuskelentzündungen – und auch nach der Impfung treten teilweise recht schwere Nebenwirkungen auf. Woran liegt das?
Das Ziel der Impfung ist im Prinzip, dem Immunsystem zu zeigen, wie der Erreger oder Teile davon aussehen. Dazu wird es auch ein bisschen provoziert. Aber das Immunsystem patrouilliert ohnehin und schaut, was im Körper so los ist. Und dann kann es in ganz seltenen Fällen zu einer Überreaktion kommen – wie im Fall der Herzmuskelentzündungen oder Thrombosen. Es ist im Detail auch noch nicht ganz klar, was genau das verursacht. Im Fall der Herzmuskelentzündungen haben sich aber die allermeisten Patienten wieder vollständig erholt. Auch viele Virusinfektionen können dazu führen. Unklar ist noch, wie hoch der Anteil der Herzmuskelentzündungen nach Covid-19 ist, und ob hier das Risiko nicht wieder höher liegt als nach der Impfung. Bei den Thrombosen hat man dann sehr schnell nachjustiert und den Impfstoff an Gruppen mit höherem Risiko, etwa Frauen über 55 Jahre, nicht mehr vergeben. Das zeigt, wie gut das Gesundheitssystem in Europa im Wesentlichen funktioniert.

Warum wurde das nicht in den Studien vor der Freigabe der Impfstoffe entdeckt?
Die klinischen Studien sind so konzipiert, dass genug Teilnehmer dafür rekrutiert werden müssen, um alles, was relativ häufig auftritt, sehen zu können. Meist sind das zwischen 20'000 und 40'000 Probanden. Sonst geht die klinische Studie überhaupt nicht durchs System. Die Thrombosen und Herzmuskelentzündungen traten aber so selten auf – letztere in etwa einem von 60'000 Fällen –, dass sie in diesen Studien nicht erkannt wurden, sondern erst, als noch deutlich mehr Menschen geimpft wurden.

Was ist mit Langzeitfolgen?
Aus rund einhundert Jahren Impfstoffforschung weiss man: Wenn Nebenwirkungen auftreten, dann in der Regel innerhalb der ersten vier bis acht Wochen nach der Impfung. Deshalb werden die Freiwilligen in klinischen Studien auch bis zu acht Wochen lang sehr engmaschig beobachtet. Wenn wir von Langzeit-Nebenwirkungen sprechen, bedeutet das nicht, dass sie nach zehn Jahren plötzlich auftauchen, sondern das sind Folgen, die uns lange erhalten bleiben können.

Auch wenn es nur wenige Fälle sind: Schwerwiegende Nebenwirkungen zerstören das Vertrauen ins Impfen …
Ich verstehe, dass sich Menschen jetzt mehr Gedanken machen, ob sie sich impfen lassen oder nicht. Das ist immer eine berechtigte Frage. Keine Impfung und auch kein Medikament ist völlig ohne Nebenwirkungen. Das ist auch so bei der Aspirin-Tablette. Letztlich ist es eine Risikoabwägung. Dabei stellen aber manche den falschen Vergleich an: Oft wird das Risiko abgewogen zwischen «Ich lass mich impfen und habe möglicherweise Nebenwirkungen» und «Ich lass mich nicht impfen und habe kein Risiko».

Eine realistische Risikoabwägung müsste aber die Wahrscheinlichkeit einer Virusinfektion und ihrer möglichen Folgen einer Impfung gegenüberstellen. Bei der Infektion ist das Risiko, zu sterben, schwere Krankheitsverläufe oder auch Long-Covid-Folgen mit Organschädigungen zu haben, um ein Vielfaches höher. Das persönliche Risiko muss man im Alltag ja ständig diskutieren: Setze ich den Helm beim Fahrradfahren auf, schnalle ich mich im Auto ran? Niemand wird bezweifeln, dass das einen wichtigen Schutz bietet. Trotzdem gibt es sehr seltene Unfallszenarien, in denen ich tödlich verunglücken kann, weil ich mich am Gurt ungünstig stranguliere.

Als Kriterium für politische Massnahmen gegen die Pandemie wird die Inzidenz, also die Zahl der Infizierten pro 100'000 Einwohner herangezogen. Für wie geeignet halten Sie diesen Wert?
Solange, bis alle die Chance hatten, sich voll impfen zu lassen, ist die Inzidenz ein wichtiger Kennwert. Er zeigt uns an, wie viel Virus gerade in unserer Gesellschaft unterwegs ist und welchem Risiko ich mich aussetze. Es ist aber völlig klar, dass langfristig der Inzidenzwert nicht mehr der Hauptausschlaggeber sein kann, weil die Immunisierung vorankommt. Vermutlich muss man zukünftig eher die Rate der Hospitalisierung im Blick behalten.

Wird mit der Kommunikation der Inzidenz nicht unnötig Angst gemacht? Selbst wenn 200 von 100'000 Menschen infiziert sind, haben immer noch sehr viele Menschen das Virus nicht.
Klar, 200 ist erstmal nicht viel, kann aber schnell viel werden. Wenn man überlegt, dass zum Beispiel jeder Infizierte zehn Menschen anstecken könnte, hat man schnell 200 mal zehn, die dann etwa wieder zehn infizieren können – und dann kann so etwas sehr schnell ausser Kontrolle geraten, wenn man es zu spät stoppt. Deshalb finde ich es wichtig, Inzidenzen zu kommunizieren, verstehe aber auch, dass man dann vielleicht das Gefühl hat, es werde unnötig Angst gemacht. Aber man muss Entscheidungen für Schutzmassnahmen treffen, bevor etwas passiert ist. Nach der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands wurde diskutiert, ob die Folgen hätten verhindert werden können. Beim Virus gibt es die gegenteilige Kritik: Waren diese Vorsichtsmassnahmen nicht alle unnötig? Vielleicht liegt das daran, dass ein Virus abstrakter ist als eine Flut.

Lockdown und Kontaktbeschränkungen sollten die Ausbreitung des Virus verhindern und Gesundheit und Leben schützen. Aber die Folgen davon sind teilweise auch verheerend, etwa für die Bildung, für Kultur, Gastronomie oder die Psyche. Wie beurteilen Sie das ethisch – war es das wert?
Schwierig. Wir wissen nicht, wie es gewesen wäre, wenn wir keine Lockdowns gehabt hätten – wahrscheinlich hätten wir deutlich mehr schwere Krankheits- und Todesfälle. Die tatsächlichen Fälle und die Traumata, die das auslöst, unterschätzen wir in der öffentlichen Diskussion oft, weil wir sie nicht erlebt haben. Eine Pandemie kostet uns alle viel und leider kostet sie oft die mehr, die ohnehin schon benachteiligt sind. Deshalb würde ich sagen: Für den Durchschnitt waren die Massnahmen wahrscheinlich eine sehr gute Entscheidung. Dass es für nicht jeden eine gute Entscheidung war, ist aber leider auch klar.

Wie haben Sie in der Pandemie das Verhältnis von Christen zur Naturwissenschaft wahrgenommen?
Auf der einen Seite ist mir eine sehr grosse Skepsis begegnet, die mir manchmal wehtut. Ich bin sehr überzeugt Christ und habe eine lebendige Gottesbeziehung. Mir das absprechen zu lassen, weil jemand sagt: Sie ist Wissenschaftlerin und das passt nicht mit dem Glauben zusammen – das fand ich persönlich schwierig. Und ich verstehe auch nicht, warum manche Christen sich schwertun, zu glauben, dass ein Naturwissenschaftler fachlich gesehen weiss, was er tut. Das zweifeln sie bei Ingenieuren ja auch nicht an. Auf der anderen Seite war es plötzlich viel einfacher, Menschen für meine biologische Forschung zu interessieren. Ich hatte spannende Gespräche mit Leuten, die zum ersten Mal danach gefragt haben, wie mein Berufsalltag eigentlich aussieht, wie meine Forschung funktioniert, was wir über Viren wissen. Die Diskussion hatte ich vorher nicht.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie eine Pandemie als das sehen, was sie ist, nämlich ein biologisches Problem…
Ich wehre mich damit gegen eine geistliche Überinterpretation, sie als zeitliches Zeichen oder als Werk des Antichristen zu deuten. Es ist jetzt erst einmal einfach nur ein biologisches Problem und eins, das wir auch gut klassifizieren und charakterisieren können – und wogegen wir sogar schon Impfstoffe entwickelt haben. Selbstverständlich warten wir auf das Ende der Welt und darauf, dass Jesus wiederkommt. Die Bibel kündigt auch an, dass das Ende der Welt schwierig wird mit Krankheit und Chaos und Krieg, aber den Zeitpunkt kennen wir nicht. Rein rational betrachtet ist es eine Pandemie unter vielen. Die Pest im Mittelalter war deutlich schlimmer. Die Weltkriege waren mit Sicherheit auch schlimmer.

Steckt trotzdem eine Botschaft von Gott in der Pandemie?
Alles auf dem Planeten sagt uns auch etwas über Gott. Die Vielfalt zeigt uns, was er über Kreativität denkt. Die Art und Weise, wie Menschen und Viren und andere Ökosysteme zusammenhängen, zeigt, dass wir Teil dieser Schöpfung sind und nicht darüber stehen. Und eine Pandemie zeigt, wie wenig wir uns selber unter Kontrolle haben. Sie zeigt uns, wie fragil unsere Welt ist und dass wir Erlösung brauchen.

Dr. Mirjam Schilling, Jahrgang 1986, forscht an der Universität Oxford daran, wie Viren in den ersten Minuten bis Stunden nach einer Infektion vom Immunsystem erkannt werden und wie das Immunsystem mit dem Virus interagiert. Zudem arbeitet sie an einer Dissertation in Theologie und untersucht deren Schnittstellen zur Virologie. Dabei spielen Fragen nach Gut und Böse in der Welt eine Rolle, nach dem Leid oder die These des Atheisten Richard Dawkins, Religion sei ein Virus des Gehirns.

Dieses Interview erschien in der Ausgabe 4/2021 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können PRO kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41/5 66 77 00.

Zum Thema:
Einen Weg finden: Verändert die Corona-Krise unser Leben nachhaltig?
Freiheit und Nächstenliebe: Christliche Verantwortung angesichts der Pandemie
Gemeinsam fürs Wesentliche: Livenet-Talk: Treibt uns Corona auseinander?

Datum: 19.08.2021
Autor: Jonathan Steinert
Quelle: PRO Medienmagazin

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