Verlorene Zeit?

Im Wartezimmer des Glaubens

In einer Zeit, wo Bewegung alles ist, klingt Warten schrecklich unpassend. Trotzdem durchlebt jeder Mensch Wartezeiten, die scheinbar unproduktiv sind. Doch Gott möchte sie in besonderer Weise nutzen. Warten ist eine Chance.
Wartezeiten gehören auch zum Leben als Christ.
Hauke Burgarth

Warten. Allein das Wort klingt für mich nach Krankenhaus, Finanzamt, Schlangestehen – also nach jeder Menge Notwendigem, das ich aber nie im Leben freiwillig tun würde. Womit schon deutlich wird, dass der Begriff für mich nicht besonders positiv besetzt ist.

Ungeduld als Lebenshaltung

Ich kann für andere Menschen wirklich Geduld aufbringen. Manchmal. Bei mir selbst und den Umständen, in denen ich mich bewege, gelingt mir dies nicht so gut. Es ist sicher symptomatisch für mich, dass ich vor einiger Zeit meinen Hausarzt gewechselt habe. Ich war nicht unzufrieden mit ihm, im Gegenteil. Allerdings habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr zu ihm in die Sprechstunde kam, weil ich dort zu lange warten musste: War ich gesund und wollte nur zu einer Vorsorgeuntersuchung, ging ich nicht, weil ich mich zu gesund fühlte, um stundenlang im Wartezimmer zu sitzen. War ich krank, ging ich nicht, weil das lange Warten nicht auszuhalten war. Sie merken schon: Geduld ist nicht meine grösste Stärke...

Ich bin kein Effizienz-Junkie. Ich muss nicht jede Sekunde wachsen, arbeiten oder verdienen. Doch Warten fühlt sich für mich an wie verlorene, vertane Zeit. Dies gilt für viele Lebensbereiche: Wenn eine Webseite zu lange braucht, um sich aufzubauen, dann klicke ich weg. Wenn manche Leute einen Sachverhalt zu umständlich und langwierig erklären, dann unterbreche ich sie schon mal. Wenn mein Vordermann mit 70 über die Landstrasse zuckelt, obwohl er 100 fahren könnte, ärgert mich das. Mit meiner Aversion gegen das Warten fühle ich mich in guter Gesellschaft – ich weiss, dass viele ähnlich empfinden. Nur, was wäre, wenn ich durch das Vermeiden all dieser Wartezeiten gleichzeitig verhindere, dass Gott mich prägen und formen kann?

Befohlenes Warten

Die Apostelgeschichte beginnt mit einem Befehl von Jesus an seine Jünger: «Und als er mit ihnen zusammen war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheissung des Vaters.» (Apostelgeschichte, Kapitel 1, Vers 4) Warum sollen die Jünger hier warten? Es wäre doch einfacher gewesen, direkt in den Himmel aufzufahren und ihnen sofort den Heiligen Geist zu schicken. So verbringen sie zehn Tage mit Warten, Fragen und Zweifeln. Doch Jeff Strong, ein US-Pastor, erklärt diesen Zusammenhang so: «Indem er seinen Jüngern befiehlt zu warten, befolgt Jesus ein biblisches Prinzip: Jedem Neubeginn geht eine Phase des Wartens voraus.»

Abraham & Co

Ein typisches Beispiel hierfür ist Abraham. Nachdem Gott ihm einen Erben versprochen hatte, mussten Sara und er «nur» noch 25 Jahre lang darauf warten. Mose war von Gott berufen, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien und wartete 40 Jahre lang als Schafhirte auf die passende Gelegenheit. Bevor Paulus seinen Dienst als Missionar begann, wartete er erst einige Tage blind auf Heilung und dann einige Jahre in der Wüste auf Gottes Auftrag. Selbst Jesus trat seinen Dienst erst nach 30 Jahren Wartezeit an. Manchmal scheint Gott eine Tür vor uns zu schliessen – und zwar nicht, um sofort eine andere zu öffnen, sondern um uns eine Wartezeit zu verordnen.

Ich & Co

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich all das nicht nur weiss, sondern auch lebe, doch so ist es nicht. Wenn ich vor Hindernissen stehe – Gottes verschlossenen Türen –, dann ist mein Gebetsanliegen meistens: «Herr, öffne diese Tür bitte wieder oder gib mir schnell eine Alternative…» Gleichzeitig merke ich wenigstens im Rückblick, wie mich so manche Wartezeit und Durststrecke näher zu Gott gebracht hat als jede schnelle Antwort. «Wartezimmer» hört sich immer noch schrecklich für mich an, aber inzwischen sehe ich, dass Gott auch solche Zeiten in meinem Leben gebraucht.

Warten auf die Gabe

Der Befehl zu warten in der Apostelgeschichte beruhigt mich andererseits. Denn Warten ist hier und in zahlreichen anderen biblischen Berichten kein Selbstzweck: Es ist das Warten auf die «Verheissung», die Gabe Gottes, den Heiligen Geist.

Wer jemals erlebt hat, wie eine Fussballmannschaft nach einer katastrophalen ersten Halbzeit in die Umkleidekabine verschwunden ist und nach der Pause (= Warten) völlig verwandelt den Platz betreten hat und das Spielergebnis drehen konnte, der hat schon etwas von dem Geheimnis hinter dem Warten verstanden: Gott sucht die Zeiten, in denen wir nicht im Rampenlicht stehen und komplett ausgebucht sind mit Aufgaben. Er sucht unsere stillen Zeiten, unsere Wartezeiten, in denen wir besonders offen sind für sein Reden. Und dieses Reden verändert unser folgendes Leben.

In der Stille geboren

Tatsächlich entstehen in diesen Ruhephasen oft neue Ideen, wachsen Überzeugungen, beginnt Klärung, Reinigung, Heiligung. Unsere Berufung gewinnt Gestalt, bekommt ein Gesicht. Wir bekommen die Kraft, die wir brauchen, um voranzugehen, wenn die Wartezeit vorbei ist. Scheinbar geht es also für mich – und nicht nur für mich – darum, Wartezeiten zu akzeptieren und sie mit Gottes Hilfe zu gestalten.

Warten ist immer noch keine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Aber wenn eine Wartezeit nötig ist, damit mein Leben nicht nur irgendwelche Ergebnisse hervorbringt, sondern Frucht, dann bin ich bereit dazu. Es müssen ja nicht gleich 25 Jahre sein wie bei Abraham…

Zum Thema:
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Warten und Freude: Was hat Corona mit Advent zu tun?
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Datum: 31.10.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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