«Anything goes» oder Strenge?

Die Suche nach der idealen Gemeindeordnung

Allein die Vielfalt der christlichen Gemeinschaften zeigt, wie unterschiedlich die Bibel interpretiert werden kann. Während in einer Kirche ein Konkubinat kaum ein Problem darstellt, ist es in einer anderen ein «Offizialdelikt», das die Gemeindegehörigkeit oder die Mitarbeit verunmöglicht. Wie man mit dieser Spannung umgehen kann, erörterte Meinrad Schicker, Pastor der BewegungPlus in Thun, am VFG-Weiterbildungstag in Aarau.
Meinrad Schicker
Meinrad Schicker

Es sind Fragen, um die eine Gemeindeleitung wohl gerne einen weiten Bogen machen würde, die aber unweigerlich in einer christlichen Gemeinschaft zu klären sind: Was verunmöglicht eine Mitarbeit oder führt zu einer Beendigung des Leitungsdienstes? Wie muss jemand leben, um als Jugendpastor eingesetzt zu werden? Welche Linie verfolgen wir im Umgang mit Alkohol? Wie gehen wir mit Scheidungen um? Und wie mit homosexuell empfindenden Menschen?

DIE Gemeindeordnung gibt es nicht

Meinrad Schicker, Vorstandsmitglied des Verbands «VFG – Freikirchen Schweiz», forderte in liebevollem und gleichzeitig schonungslos ehrlichem Ton die 400 Verantwortlichen aus verschiedenen Schweizer Freikirchen heraus, nach der «Gemeindeordnung, die Leben ermöglicht» zu suchen. Die einzig wahre Gemeindeordnung, die alle Fragen endgültig klärt, gebe es aber nicht, stellte Schicker fest: Die unterschiedlichen Bibelverständnisse, die unterschiedlich gewachsenen Traditionen und Werte führen auch zu unterschiedlichen Gemeindeordnungen. Ja in der Bibel selbst finden wir einen dynamischen Umgang mit den Ordnungen. Darum wäre es sinnvoll, von «Hausordnungen» zu sprechen, weil damit der Individualität jeder Gemeinschaft eher Rechnung getragen wird.

Damit könnte auch entspannter damit umgegangen werden, dass Gemeinden und Kirchen andere Hausordnungen haben, ohne sie deswegen des Verrats an der Bibel zu verdächtigen. Eine Hausordnung hilft auch zu klären, wie man Kirchenferne auf den Weg mitnehmen will und wie man die Gemeinschaft und ihre Werte schützen will.

Wie anspruchsvoll dieser Prozess ist, zeigte Meinrad Schicker allein in der gesellschaftlichen Entwicklung beim Thema «Konkubinat» auf. Ein Zusammenleben zwischen einem Mann und einer Frau ohne Ehevertrag war im Kanton Zürich bis 1972 verboten, im Kanton Wallis galt das Konkubinatsverbot sogar bis 1995. Wie die lokale Gemeinde mit diesen geänderten gesellschaftlichen Werten umgehen will, lässt sich nicht einfach beantworten, so Schicker. Dies zeige, dass eine Hausordnung immer wieder unter dem Gesichtspunkt geänderter Rahmenbedingungen betrachtet werden müsse und dürfe. «Eine biblische Gemeindeordnung lässt sich fast nicht ändern. Wer aber verstanden hat, dass 'alle Erkenntnis Stückwerk ist', wird auf die wechselnden Herausforderungen auch im Rahmen einer Hausordnung gelassener reagieren können.» 

Beunruhigende Verantwortung

Diese Zurückhaltung, alle Streitpunkte in einem Dokument ein für alle Mal festzulegen, hat nach Einschätzung von Meinrad Schicker nichts damit zu tun, sich drücken oder die biblischen Ordnungen verwässern zu wollen. Er sieht es als Verantwortung jeder Gemeinde an, in den aktuellen Umständen zu beurteilen, wie der Glaube im konkreten gesellschaftlichen Kontext gelebt werden soll.

Die Verantwortung, die Gott der Gemeinde zutraue, sei schon fast «beunruhigend». Dabei verwies Schicker auf Matthäus 18, Verse 15-18, in der Jesus der Gemeinde (im Urtext Ekklesia) eine einmalige Autorität zuspricht: «Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.»

Diese Anweisung findet in Apostelgeschichte 15 praktische Anwendung, als sich geistliche Leiter zusammen mit der ganzen Gemeinde über die Frage stritten, was den neuen Christen ohne jüdischen Hintergrund auferlegt werden sollte (z.B. Beschneidung). Am Ende kamen sie «geleitet durch den Heiligen Geist» zu einem Entschluss, indem sie ihnen eine andere Hausordnung zugestanden. Genau dies sei bei den aktuell brennenden Fragen angebracht, mahnte Schicker. Die Ekklesia müsse auch heute noch entscheiden, was gilt und was nicht mehr gilt. Das sei eine «unerhörte Verantwortung und ein unerhörtes Vertrauen von Gott in seine Gemeinde.»

Gelebte Nähe statt lange Checkliste

In der BewegungPlus in Thun habe man zur Regelung der theologisch-ethisch heiklen Punkte keine langen Checklisten erstellt, erklärte Meinrad Schicker. «Mein Verdacht: Checklisten sind ein fruchtbarer Nährboden für Heuchelei.» Dennoch sei die Checkliste ein Weg, für den sich eine Gemeinde entscheiden kann – im Bewusstsein um ihrer Stärken und Schwächen:

Stärken der «Checkliste»

Schwächen der «Checkliste»

Für alle gelten die gleichen Regeln. Grosse Klarheit. Es gibt keine Diskussionen!

Individualität wird vernachlässigt. Wenig Nähe zu den einzelnen Menschen und ihren Situationen.

Sicherheit: «Das gilt bei uns!»

Willkür: Warum diese Regeln und nicht andere?

Einfache Kommunikation: Definierter Katalog

Heuchelei und «frommes Theater», wenn Zugehörigkeit von Leistung abhängt

Wer sich jedoch für eine Gemeindekultur entscheidet, wo man sich gemeinsam auf den Weg begibt, muss Nähe wagen und mit der Spannung leben lernen, dass wir alle andere «Baustellen» haben. Eine Gemeinde, die sich auf diese Weise auf den Weg begibt, wird sich aber fragen müssen, wo die Grenzen des Einander-Tragens  (Kolosserbrief, Kapitel 3, Vers 13) liegen: «Wie viele Umwege und wie viel Individualität sind tolerierbar, wenn wir uns als Weggemeinschaft begnadigter Sünder verstehen und gleichzeitig Gottes Ordnungen ernst nehmen wollen?»

Meinrad Schicker machte kein Geheimnis daraus, dass er selbst für eine wertebasierte Hausordnung einsteht, die grundsätzlich jeden willkommen heisst, der sich auf Jesus zubewegen will und auf die tiefe Wahrheit von Jesu Aussage in Johannes 14, Vers 15 vertraut: «Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.» Auch diese Hausordnung hat laut Schicker aber nicht nur Vorteile:

Stärken der «wertebasierten Hausordnung»

Schwächen der «wertebasierten Hausordnung»

Nähe: Man lässt sich auf den Einzelnen und seine Geschichte ein.

Unsicherheit: Ist hier alles erlaubt?! Was gilt denn nun genau?

Gemeinde als Weggemeinschaft begnadigter Sünder

Bisshemmung: Wenn wir alle «begnadigte Sünder» sind, wer getraut sich dann noch, Fehlverhalten anzusprechen?

Heiligung: Jeder hat seinen eigenen Weg

Hoher Zeitbedarf für «jüngerschaftliche Weggemeinschaft»

Gemeindezucht als «konfrontierende Nähe»

Leben wir diese Nähe wirklich? Bleibt sie nur eine nette Idee?

Zum Schluss seines provokativen Referats forderte Meinrad Schicker die Pastoren und Gemeindeleiter heraus, die grundsätzliche Frage zu klären, wer genau mit Ekklesia gemeint ist und wem damit die Autorität zum Bestimmen ihrer Hausordnung gegeben ist. Entscheidend wichtig ist weiter die Frage, welche Werte eine Gemeinschaft prägen sollen («Checkliste» oder «Weggemeinschaft»). Wer sich für eine Kultur der Nähe und Weggemeinschaft entscheidet, der kann dann im Rahmen einer Hausordnung einige wenige auf die einzelne Gemeinde und ihre Geschichte zugeschnittene Erwartungen und Ausschlusskriterien für Gottesdienstbesucher, Mitarbeitende und Leitende definieren.

Wer von der Tagung des «VFG – Freikirchen Schweiz» am 22.11.2016 in Aarau pfannenfertige Rezepte erwartete, wie die ideale Gemeindeordnung durchgesetzt werden kann, wurde enttäuscht. Doch jeder hat genügend Stoff bekommen, an dem er noch eine Weile zu kauen hat

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Datum: 26.11.2016
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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