Gedanken zur Jahreslosung

Barmherzigkeit – etwas für die Schwachen?

«Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist!» heisst die Losung für 2021. Nicht wahr, man denkt sofort an den «barmherzigen» Samariter. Und dann ist die Jahreslosung eine schöne Einladung, Schwächeren etwas Gutes zu tun. Ist das so? Gedanken dazu von Livenet-Theologe Reinhold Scharnowski.
Barmherzigkeit

Barmherzigkeit sofort auf soziale Taten zu lenken, kann eine gefährliche Ablenkung sein. Wer von uns tut nicht etwas Gutes, damit man ein gutes Gefühl hat, den Schwachen geholfen zu haben! Auch Christen sind vor dieser moralischen Selbstbefriedigung nicht gefeit. Gutmenschentum mit christlichem Vorzeichen ist eine reale Möglichkeit. 

Gottes Barmherzigkeit ist tiefgreifender. Hier ist ein heiliger Gott, der Geschöpfe in die Welt stellt, die seine Gebote beharrlich und andauernd verletzen. Die seine Liebe links liegen lassen. Die nicht nur «schwach» oder krank, sondern aktiv widerspenstig sind. Die Kriege anzetteln, Ehen brechen, streiten, Schwache unterdrücken und rücksichtslos ihre Rechte durchsetzen.

Gnade und Recht

«Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von grosser Güte.» Diesen widerspenstigen Geschöpfen gegenüber entscheidet sich Gott, nicht Böses mit Bösem, Sünde mit Tod, Schuld mit Einforderung zu begegnen. Er wählt einen anderen Weg – Gnade und Barmherzigkeit als seine Ur-Reaktion auf das Böse. 

Das ist für Moralisten ein fast unerträglicher Gedanke – und leitet in direkter Linie zum Kreuz. Leiden und Tod Christi sind gleichzeitig Ausdruck und Grund der Barmherzigkeit Gottes. Weil Gott sich über Sünde erbarmt, hat er die Strafe auf seinen Sohn gelegt. Und weil Jesus den (berechtigten) Zorn über das Böse trug, kann Gott mit Fug und Recht barmherzig sein, ohne seine Gerechtigkeit zu verletzen. Darum lässt Gottes Barmherzigkeit nicht Fünfe grad sein, sondern entscheidet sich für den Weg der Vergebung. Er lässt nicht «Gnade vor Recht ergehen», sondern dank dem Kreuz «Gnade und Recht».

Gerade zu den Frommen

Die Jahreslosung fordert tief heraus. Wie begegne ich Bösem? Mit Gerechtigkeit – oder mit Barmherzigkeit? Es ist sehr nötig, gerade Christen diese Frage zu stellen – Menschen, die selbst Barmherzigkeit empfangen haben und das so schnell vergessen. Die eine «Ethik» bauen, nach der sie dann Menschen einordnen. Es ist ein Phänomen, dass gerade Gerechtfertigte mit Ungerechten so schnell fertig sind. Das gilt übrigens nicht nur für Christen: je höher der ethische Massstab, um so schneller neigen wir zum unbarmherzigen Verurteilen – eins der grossen Paradoxien von Religionen, die oft einen Barmherzigen Gott auf der Fahne tragen. Wer ein starkes Bewusstsein von «Richtig und Falsch» hat, leidet an dem, was falsch läuft. Die «Toleranten» unserer Zeit hingegen zelebrieren häufig lediglich ihre innere Massstabslosigkeit – sie, denen alles gleich gültig ist. 

Keine Religion

Das Christentum ist vom Wesen her eigentlich keine Religion, definiert durch Regeln und Riten, sondern eine Bewegung der Barmherzigkeit in einer unbarmherzigen Welt. Schon im Alten Testament ist Gott «gnädig und barmherzig, geduldig und von grosser Güte». Und Jesus scheint auf kaum eine Weisung mehr Wert zu legen als auf diese: «Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen» sagt er programmatisch in der Bergpredigt – der Umkehrschluss gilt auch: «Wenn ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, wird euch auch nicht vergeben» (Matth. 6:14-15). Vergebung ist angewandte Barmherzigkeit. Zugespitzt: ein Christ muss «hohe ethische Massstäbe PLUS Barmherzigkeit» ausleben, sonst degeneriert er schnell zum Moralisten. 

Barm-herzig – keine Schwäche

Barmherzig sein heisst dann natürlich auch «ein erbarmendes Herz haben» – nicht nur den Fehlern, sondern auch dem Elend unserer Mitmenschen gegenüber. Es ist eine liebevolle, starke Grundhaltung – der Wille, dem Bösen und Schlimmen entgegenzutreten, es durch Gutes zu überwinden und ihm wo möglich den Boden zu entziehen. Hinschauen. Sich immer wieder betreffen lassen. Und vor allen Dingen konkret zu handeln.

Man sieht: Barmherzigkeit ist keine Schwäche, sondern eine starke Haltung. Der Barmherzige verdrängt, leugnet oder schönt das Böse und Schlimme nicht, sondern lässt sich drauf ein. Das kostet Kraft, Energie, Zeit, Geld. Woher kommt die Kraft dazu? Letztlich aus dem Wissen und der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes. Wer sich selbst wirklich kennt, wird barmherzig mit anderen Menschen. Wem viel vergeben ist, der liebt viel.

Zum Thema:
Gedanken zur Jahreslosung: Glauben heisst ehrlich sein vor Gott
Staunen über Gottes Wesen: Was Barmherzigkeit tatsächlich ist
Ohne Gottes Liebe geht nichts: Philipp Schön über Barmherzigkeit im Alltag

Datum: 01.01.2021
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung