Dr. Johannes Reimer

Versöhnung – warum nicht Europa?

Auch Europa wurde und wird von ethnischen Konflikten heimgesucht. Auch bei uns braucht es Versöhnung. Und gerade die Kirche ist berufen, hier eine Vorbildfunktion einzunehmen. Gedanken dazu von Dr. Johannes Reimer der Weltweiten Evangelischen Allianz.
Dr. Johannes Reimer (Bild: https://worldea.org)

Es steht ausser Frage, dass wir in Europa Versöhnung brauchen. Ost und West, Nord und Süd, unser grosser Kontinent war Zeuge zahlreicher Kriege und Konflikte. Die Europäer tragen genug geschichtlichen Ballast mit sich herum, dass sie für ein ganzes Jahrhundert wütend aufeinander sein könnten. Die Briten, Franzosen, Spanier, Russen, Deutschen und andere europäische Länder haben ihre Reiche dadurch aufgebaut, indem sie über kleinere Stämme regierten und sie zwangen, sich an ihre Kultur und Sprache zu gewöhnen. Fragen Sie bloss die Schotten, wie sie über die Engländer denken, die Katalanen über die Spanier, oder die Ukrainer über die Russen.

Die meisten unserer europäischen Reiche sind schon lange zusammengebrochen, aber die Ressentiments gegenüber den früheren Machthabern bleiben. Etwa in den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen, die jahrelang von Russland und später der Sowjetunion beherrscht wurden – Russen sind in diesen Ländern die gehassten Nachbarn, obwohl die Sowjetunion schon längst zerbrochen ist.

Dasselbe können wir in der Kirche beobachten. Ethnozentrismus und Ethnokonfessionalismus sind die grössten Hindernisse, um das Evangelium heute in Europa zu verbreiten. Einheit fördert die Kenntnis Gottes weltweit, wie Jesus in Johannes, Kapitel 17, Vers 21 erklärt. Uneinigkeit dagegen ist der Grund, weshalb die Menschen nicht Gottes Grösse in seinen Nachfolgern erkennen. Jahrhundertelang haben sich auch in Europa gewisse Denominationen als nationale oder gar Staatskirchen gesehen und kleinere ethnische Gruppen unterdrückt. Kein Wunder, dass diese kleineren Gruppen sich ihnen nicht anschlossen.

Die Kirche als Werkzeug zur Versöhnung

Die Kirche ist Gottes Werkzeug zur Versöhnung (2. Korinther, Kapitel 5, Verse 19-20). Sie darf niemals ein Anhang des Staates sein. Ihre Aufgabe ist es, Gottes Reich zu fördern und nicht die Reiche bestimmter nationaler Mehrheiten. Und in Gottes Reich gibt es keinen Fokus auf ethnische Hintergründe. Der Apostel Paulus schrieb den Galatern: «Hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, zwischen Sklaven und freien Menschen, zwischen Mann und Frau. Denn durch eure Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle zusammen ein neuer Mensch geworden.» (Galater Kapitel 3, Vers 28) Jesus ist unser Friede und er hat die von fern und nah zu einem Leib zusammengeführt (Epheser, Kapitel 2, Vers 14).

Ethnokonfessionalismus ist biblisch gesehen ein No-Go. Die Kirche soll versöhnen und nicht teilen. Für die Europäische Kirche bedeutet das, inmitten von Konflikten und ethnozentrischen Gräben nach Wegen zu suchen, wie sie die Menschen mit Gott und miteinander versöhnen und sie in Gottes Reich führen kann.

Versöhnung auf Gottes Art

Jesus ist Gottes radikaler Versöhner. Er kam, um die Welt mit Gott, dem Vater zu versöhnen (2. Korinther, Kapitel 5, Vers 18) und er zeigt die Grundlagen von radikaler Versöhnung auf.

Als erstes müssen Menschen die Wahrheit erkennen, damit sie frei werden (Johannes, Kapitel 8, Vers 32). Diese Erkenntnis ist ein Prozess, in welchem die Menschen ihre Vorurteile überwinden. Vielleicht entdecken sie sogar, dass ihre eigene begrenzte Perspektive, in der sie andere Menschen sehen, verzerrt ist vom kollektiven Denken der Mehrheit. Versöhnung ist nur möglich, wenn alle Parteien die Geschichte und die Wahrheit dahinter kennen.

Als zweiten Schritt kann ein Mediator einen Weg zur Versöhnung vorschlagen, sobald die Wahrheit bekannt ist, sich die Parteien darauf geeinigt haben, und sobald Opfer und Täter benannt und Ungerechtigkeit aufgedeckt wurde. Es ist wichtig, Ungerechtigkeiten nicht zu vergleichen. Keine Sünde ist grösser oder geringer als eine andere Sünde. Jede Art der Ungerechtigkeit muss benannt und Menschen um Vergebung gebeten werden. Das gilt auch für kollektive oder geschichtliche Ungerechtigkeit. Denn erst dann sind die Nachkommen der Opfer fähig, den Nachkommen der Täter zu vergeben, genauso wie die Nachkommen der Täter fähig werden, die Nachkommen der Opfer um Vergebung zu bitten.

Doch die Versöhnung endet nicht damit, dass die Parteien einander vergeben. Als dritter Schritt müssen sie eine gemeinsame Zukunft entwickeln, über Möglichkeiten sprechen, wie sie gemeinsam für bessere Lebensbedingungen ihrer Gemeinschaften arbeiten können.

Die Berufung der Kirche

Wir Europäer brauchen eine Vorstellung darüber, was gemeinsam getan werden kann und wie positive Beziehungen aussehen können. Und Christen sind perfekt dafür vorbereitet, Prinzipien und Praktiken aus ihrer Reich-Gottes-Kultur zu ziehen, die einen bedeutungsvollen sozialen Raum herstellt, in dem wir in Einheit leben, während wir unsere Vielfalt schätzen lernen.

Letztlich wird die Kirche doch als Leib Christi bezeichnet – und nichts ist so vielfältig wie der menschliche Körper. Alle Teile sind unterschiedlich, aber gleichzeitig dienen sie einander und bilden damit die mächtigste Einheit unter der Sonne (Epheser, Kapitel 1, Vers 23). Genauso muss die Kirche den Ländern diese Grundlagen beibringen – das ist die Berufung Gottes für die Kirche (Matthäus, Kapitel 28, Verse 19-20).

Zum Autor:

Prof. Dr. Johannes Reimer ist Professor für Missionswissenschaft an der Theologischen Hochschule Ewersbach und leitet seit 2016 das Netzwerk für Frieden und Versöhnung der Weltweiten Evangelischen Allianz.

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Datum: 08.08.2020
Autor: Johannes Reimer / Rebekka Schmidt
Quelle: Evangelical Focus / Übersetzt und gekürzt von Livenet

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