Gemeinden im Nahen Osten

«Viele Christen dienen weiterhin Flüchtlingen»

In den letzten zehn Jahren ist der Nahe Osten zu einer Flüchtlingsregion geworden. Die meisten von ihnen kommen aus der Nähe, als Folge des Krieges, der seit 2011 in Syrien wütet. Viele aber kommen von weiter her, zum Beispiel aus Afghanistan.
Die NGO Christian Aid hilft im Libanon. (Bild: christianaid.org.uk)
David Rihani, Präsident des Evangelischen Rates von Jordanien

Die meisten Flüchtlinge kommen aus der Nähe, als Folge des Krieges, der seit 2011 in Syrien wütet. Viele aber kommen von weiter her, zum Beispiel aus Afghanistan.

Obwohl der Iran und Pakistan 90 Prozent der afghanischen Flüchtlinge beherbergen, nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) mehr als 2,2 Millionen Menschen, machen die zunehmenden Beschränkungen in beiden Ländern, mehr Vertriebene aufzunehmen, und ihr Wunsch, Europa zu erreichen, den Nahen Osten zu einem wichtigen Gebiet auf der Route vieler Migranten.

Der neue Konflikt in Afghanistan nach den Ereignissen dieses Sommers, mit dem Abzug der US-Truppen und dem Sieg der Taliban, die nun die Regierung des Landes übernommen haben, hat zu einer zunehmenden Flüchtlingsbewegung innerhalb und ausserhalb des Landes geführt.

Aufgrund dieses neuen Szenarios wird im Nahen Osten bereits über die Ankunft von mehr Menschen nachgedacht: «Es ist nicht einfach, zu Fuss zu fliehen und die Grenzen zu den Nachbarländern zu überqueren. Es ist ein extrem ungewohntes, unwegsames Gelände und die Übergänge sind unvorhersehbar und gefährlich», erklärt der Präsident des Evangelischen Rates von Jordanien, David Rihani.

Christliche Flüchtlinge in Angst

Rihani fügt hinzu: «Fliehende Minderheiten, vor allem christlichen Glaubens, leben in Angst und sind auf beiden Seiten der Grenzen Menschenhandel und Missbrauch ausgesetzt. Wir beten für ihre Sicherheit.»

Allein in Jordanien haben sich nach Angaben des UNHCR mehr als 750'000 Menschen niedergelassen und suchen Zuflucht. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien, aber auch viele aus anderen Ländern wie Afghanistan.

Rihani betont: «Jordanien hat immer in vorderster Reihe mit der Weltgemeinschaft zusammengearbeitet, um Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen, aber wir brauchen internationale Unterstützung, da unsere Wirtschaft gelitten hat.»

Die evangelischen Kirchen haben bei dieser Aufnahme eine Schlüsselrolle gespielt: «Viele unserer Kirchen haben ihre Türen und Einrichtungen geöffnet, um alle Flüchtlinge willkommen zu heissen und sie haben Lebensmittel, Kleidung und Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Evangelische Christen haben ihre Häuser geöffnet, um gefährdete Flüchtlingsfamilien und alleinerziehende Mütter mit Kindern aus dem Irak und Syrien aufzunehmen.»

Hilfe für Geflüchtete

«Wir haben auch Ausbildungszentren für Frauen eröffnet, in denen sie Fertigkeiten erlernen, um ihre Familien unterstützen zu können. Wir können dasselbe für die afghanischen Flüchtlinge tun, wenn sie in Jordanien bleiben dürfen», unterstreicht Rihani.

Der Präsident des Evangelischen Rates von Jordanien weist auch darauf hin, dass seine Arbeit mit den christlichen Flüchtlingen aus Afghanistan bereits beginnt, wenn sie sich noch innerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes befinden: «Wir stehen in Kontakt mit mehreren Familien, die um ihr Leben fliehen, aber in Afghanistan gefangen sind. Wir wissen von fast 70 christlichen Familien, insgesamt 400 Personen, hauptsächlich Frauen und Kinder.»

Viele landen im Libanon

Mit mehr als 870'000 Flüchtlingen auf seinem Territorium ist der Libanon nach Angaben des UNHCR eines der Länder, das die meisten Menschen weltweit aufnimmt, trotz der internen Schwierigkeiten des Landes.

«Es herrscht ein allgemeines Gefühl der Müdigkeit, da die Krise nun schon seit vielen Jahren andauert. Im Libanon ist auch die einheimische Bevölkerung durch die Katastrophen, die das Land heimgesucht haben, gefährdet», erklärt der Leiter der christlichen Organisation «Libanesische Gesellschaft für Bildung und soziale Entwicklung», Wissam Nasrallah.

Obwohl «sie nun auch versorgt werden müssen, leisten viele Christen weiterhin treu ihren Dienst unter den Flüchtlingen und kümmern sich um ihre körperlichen, emotionalen und geistlichen Bedürfnisse. (…) Unser Verständnis des Evangeliums ist oft sehr eng und begrenzt. Wir verstehen das Evangelium als eine verbale Verkündigung. Wie kann man mit jemandem, der Hunger hat, über Jesus sprechen? Kann man sich nur um das Zeitliche kümmern, ohne das Ewige zu berücksichtigen? Verkündigung und Demonstration des Evangeliums gehören immer zusammen», fügt er hinzu.

Dilemma für Kirche im Nahen Osten

«Hunderte von Jahren haben Muslime und Christen in relativem Frieden zusammengelebt, und die Christen haben durch Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und Literatur einen positiven Beitrag zur Gestaltung der Kultur des Nahen Ostens geleistet», so Nasrallah weiter.

Die christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten sind jedoch aufgrund niedriger Geburtenraten, Auswanderung und in einigen Fällen Verfolgung und Gewalt zurückgegangen. «Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren aufgrund des Aufstiegs des fundamentalen Islam, des Mangels an wirtschaftlichen Möglichkeiten, der Korruption und der schlechten Regierungsführung beschleunigt.»

Nasrallah spricht von einem «christlichen Exodus» in Ländern wie dem Irak, Syrien und Libanon als Folge all dieser Faktoren.

Seele und Vielfalt in Gefahr

Nasrallah warnt, dass «jede christliche Gemeinschaft ein Stück der Geschichte des Christentums und des Nahen Ostens in sich trägt. Durch den Verlust der christlichen Bevölkerung verliert der Nahe Osten einen Teil seiner Seele und seiner Vielfalt. Aus geistlicher Sicht verliert die Kirche Arbeitskräfte und Ressourcen, was ihre Fähigkeit einschränkt, ein wirksames christliches Zeugnis in der Region zu sein.»

Er ist der Ansicht, dass «dies eine kritische Zeit in der Geschichte der Region ist. Wenn heute nichts unternommen wird, werden die alten Kirchen nicht mehr als Orte der Gemeinschaft und des Gottesdienstes besucht werden. In einer einzigen Generation werden sie nichts weiter als Museen sein. Viele evangelische Christen kämpfen heute mit der Frage, ob sie weggehen sollen, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen, oder ob sie bleiben sollen, um ein aktives christliches Zeugnis zu sein», so Nasrallah abschliessend.

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Datum: 03.11.2021
Autor: Jonatan Soriano / Daniel Gerber
Quelle: Evangelical Focus / gekürzte Übersetzung: Livenet

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