Sexueller Missbrauch

«Es sind viel mehr als angenommen»

Dagmar C. Müller begleitet Menschen, die missbraucht wurden. Und sie berät andere, um die von sexuellen Übergriffen Betroffenen besser verstehen und ihnen hilfreich begegnen zu können. Sexueller Missbrauch sei weiter verbreitet als angenommen, sagt die christliche Seelsorgerin.
Dagmar C. Müller ist ausgebildete Hebamme und Seelsorgerin.

Livenet: Dagmar Müller, weshalb braucht es eine Beratungsstelle, die speziell auf Menschen ausgerichtet ist, die unter sexuellen Übergriffen leiden?
Dagmar Müller:
Jedes dritte bis vierte Mädchen, jeder sechste bis siebte Junge hat vor dem 18. Lebensjahr einen sexuellen Übergriff in irgendeiner Art erlebt. Das heisst, in jeder Menschengruppe hat es Betroffene, und zwar viel mehr, als allgemein angenommen wird. Und ich habe noch nie erlebt, dass solche Übergriffe keine Spuren hinterlassen hätten.

Wie äussern sich die Folgen des Missbrauchs?
In Form von Scham, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühlen. Sie beherrschen das Leben dieser Menschen, die oft in ihrer späteren Lebensgestaltung eingeschränkt sind. Ihr Vertrauen und ihre Beziehungsfähigkeit sind gestört, Angst und Unsicherheit prägen sie und können auch berufliche Chancen vereiteln.

Erleben Sie im Rahmen Ihrer Therapie eine Heilung dieser negativen Gefühle?
Ich spreche nicht gerne von Heilung. Es sind oft lange, zum Teil schmerzhafte Prozesse, bis ein Missbrauchsopfer seine Identität neu zu entdecken beginnt. Aber mit Gottes Hilfe und durch die Führung des Heiligen Geistes ist vieles möglich. Man kann lernen, das Erlebte ein- und zuzuordnen und es dadurch zu verarbeiten. Gebet gehört dazu, ersetzt aber nicht die aktive Mitarbeit der Betroffenen.

Reagieren Frauen und Männer verschieden auf Übergriffe?
Ja. Männer reagieren eher mit Aggressionen, drücken ihre Wut und Angst durch Gewalt aus. Sie fühlen sich anderen Männern gegenüber minderwertig, weil sie sich nicht wehren konnten. Dafür schämen sie sich, unterdrücken aber ihre Trauer über dieses vermeintliche Versagen.

Wie ist das bei den Frauen?
Frauen fühlen sich schuldig, kennen aber den Grund dafür oft nicht. Ihre Wahrnehmung ist verzerrt, sie fühlen sich schmutzig, benutzt und brauchen viel Kraft, um die Gefühle der Demütigung und des Ausgeliefertseins zu unterdrücken. Diese Kraft fehlt ihnen dann für ihr aktives Leben. Sie fühlen sich nie ganz sicher. Meist ist ihre Sexualität gestört und viele werden depressiv.

Können Eltern merken, wenn ihr Kind sexuell missbraucht wird?
Jedes Kind reagiert anders, die Zeichen sind nicht leicht zu erkennen. Das Kind kann über Bauchweh klagen und andeuten, dass ein Familienangehöriger es unsittlich berührt hat. Dies sollte ernst genommen werden, auch wenn es unvorstellbar ist. Es ist sehr schwierig für eine Familie, mit solchen Andeutungen umzugehen. Deshalb gibt es Beratungsstellen wie Mira oder Castagna sowie kantonale Opferhilfestellen, an die man sich wenden kann.

Wie sollen Eltern oder Bezugspersonen reagieren, wenn sie einen Verdacht haben?
Sie müssen die Beziehung zum Kind oder der betroffenen Person aufrechterhalten und wachsam bleiben. Es ist wichtig, das Vertrauen zu stärken und zu signalisieren:

«Ich glaube dir, ich nehme dich ernst. Ich habe auch keine Angst vor Tränen oder Wut.» Es braucht Zeit und Feingefühl. Die erwähnten Fachstellen helfen beim weiteren Vorgehen.

Warum dauert es oft jahrelang, bis jemand sich dem Geschehenen stellt?
Verdrängung ist oft nötig zum Überleben. Aber als Erwachsene sind wir nicht mehr ausgeliefert, nun können wir selber agieren. Viele Frauen spürten schon lange, dass etwas nicht gut ist, aber sie erinnern sich an nichts. Wenn sie aber immer wieder auf ein gewisses Thema reagieren, kann das die Erinnerung wecken. Als Beraterin vertraue ich darauf, dass Gott selbst den richtigen Zeitpunkt kennt, an dem die Frau fähig wird, damit umzugehen.

Wird heute nicht zu rasch ein sexueller Übergriff vermutet?

Ich bin dagegen, dass man aus Mücken Elefanten macht. Aber sensible Menschen können auch durch vermeintlich harmlose Erlebnisse stark geprägt werden. Das kann ein sexistischer Witz sein oder obszöne oder sexualisierte Bilder, Blicke, Bemerkungen, Fotos, Berührungen. Solches Verhalten ist entwürdigend und verletzend. Das muss man thematisieren.

Was motiviert Sie, sich diesem schwierigen Thema zu widmen, anstatt als Hebamme Kinder auf die Welt zu bringen?
Ich möchte Gott verherrlichen, indem ich darauf hinweise, welche Hoffnung wir haben, wenn wir ihm nachfolgen. Ich möchte Mut machen, über Missbrauch zu reden. Gott kann zerbrochene Persönlichkeiten wiederherstellen, eine neue Identität schenken. Ich erlebe es immer wieder, wie Menschen innerlich aufleben und sich nicht mehr schämen. Eine Motivation für mich ist, dass Jesus selber sagt, dass er gebrochene Herzen heilen will.

Dagmar C. Müller (49) wohnt in Cham ZG und ist ausgebildete Hebamme und Seelsorgerin. In den USA arbeitete sie zuerst als Beraterin von Schwangeren und Müttern. Dabei erlebte sie, wie Fehlgeburten und Abtreibungen Frauen in Verzweiflung stürzen können. Diese Not führte dazu, dass sich die ehemalige Hebamme zur biblisch-therapeutischen Beraterin ausbildete. Heute begleitet sie in der Schweiz regelmässig Menschen, die sexuell missbraucht wurden. In Cham, Liestal und Siggental führt Dagmar C. Müller Einzeltherapien durch. Ausserdem bietet sie begleitete Selbsthilfegruppen an und leitet Seminare.

Zur Webseite:
Walking into Freedom
Castagna
Mira

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Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Livenet / idea Spektrum

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