Konfessionelle Gräben schwinden

«Die ukrainische Gemeinde ist eine reife Gemeinde»

«Ich denke, die Kirche in der Ukraine könnte unseren Kirchen im Westen viel beibringen», sagt Keith Daniel, Pastor in einer ukrainischen Gemeinde. In den letzten Jahren ist im osteuropäischen Land eine starke, einheimische Gemeinde entstanden.
Kirchen helfen bei der Lebensmittelversorgung (Bild: Open Doors)
Gemeinde in der Ukraine im Gebet

Trotz des brutalen Krieges, der in seinem Land tobt, betet der Kiewer Pastor Victor Punin und seine Gemeinde mit der klaren Erwartung, dass ihre Gebete erhört werden. «Die ukrainische Kirche ist eine betende Kirche», sagt Keith Daniel, er ist ebenfalls Pastor in der Ukraine.

Pastor Keith lebte um die Jahrtausendwende ein paar Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als Missionar im riesigen Land (die Ukraine ist deutlich grösser als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammengerechnet). Pastor Keith erinnert sich: «In den 1990er-Jahren wurden überall Gemeinden gegründet.»

Eine reife Kirche

Keith Daniel, der heute in der zentralukrainischen 630'000-Einwohner-Stadt Krywyi Rih lebt, war im Jahr 2010 in die Ukraine zurückgekehrt, um die Jüngerschaftsbewegung «Kingfisher Mobilizing Center» zu leiten.

Er staunte über die Veränderungen, welche die Gemeinden durchgemacht hatten. «Ich fand, dass die ukrainische Kirche in vielerlei Hinsicht gereift ist», bilanziert Pastor Keith. «Die Gemeinden sind jetzt missionarisch aktiv.»

Jetzt, da die Dunkelheit des Krieges über das Land hereingebrochen ist, sind viele Gemeinden in der ganzen Ukraine bereit, während der aktuellen Krise eine entscheidende humanitäre und geistliche Rolle zu spielen. «Unsere Leute sind durch das ganze Land gereist, um zu helfen», sagt Victor Punin. «In Kiew helfen sie Menschen in Luftschutzbunkern und Menschen, die allein in Wohnungen sind – sie ermutigen sie und bringen Lebensmittel.» Und andernorts helfen sie Flüchtlingen, über die Grenze zu kommen.

Barrieren niedergerissen

Als der Eiserne Vorhang 1990 fiel und neue Gemeinden gegründet wurden, war die Einheit unter den Kirchen gering. «Charismatische Gemeinden wurden von den Orthodoxen meist als Sekten gesehen und die Besucher als seltsame Leute betrachtet», erinnert sich Keith Daniel.

Eine Krise löste den Meinungswandel aus, so Pastor Keith weiter. «Evangelische Gemeinden standen immer leicht im Schatten der orthodoxen Kirchen. Aber seit Beginn des Krieges in der Donbass-Region im Jahr 2014 sind sie in den Vordergrund gerückt, weil sie den Menschen aktiv helfen. Die Einwohner begannen zu sagen: ‘Wow, diese Leute sind wirklich wahre Christen!’ Der Herr reisst die konfessionellen Barrieren nieder, und das ist eine schöne Sache.»

In der Stadt von Pastor Keith Daniel treffen sich Christen verschiedener Gemeinden regelmässig, um zusammen zu essen und zu beten. «Wir haben begonnen, uns gegenseitig ins Herz zu sehen.»

Kirchen funktionieren im Chaos

«Im Moment sind alle konfessionellen Unterschiede weg», beobachtet Pastor Victor Punin. Die koordinierten Gebete und Einsätze sind umso beeindruckender, wenn man bedenkt, wie schwer es für Kirchen ist, unter den gegenwärtigen chaotischen Umständen zu funktionieren. «Wir können keine Sonntagsversammlungen abhalten und es ist nicht möglich, unsere Mitarbeiter zu bezahlen», sagt Victor Punin.

Und weiter erläutert der Pastor aus Kiew: «Viele aus unserer Gemeinde haben sich entschieden, aus Kiew oder sogar aus der Ukraine zu fliehen. Die Kirche als Verwaltung funktioniert jetzt nicht, aber als Beziehungsleib existieren wir weiter. Jeden Morgen kontaktieren wir jede einzelne Person aus unserer Gemeinde und fragen, ob sie in Sicherheit ist und ob bei ihr alles in Ordnung ist. Wir konzentrieren uns darauf, einander zu dienen und uns gegenseitig zu ermutigen. Im Moment wohnen elf Personen in unserem Haus, die hier Schutz gefunden haben.»

Mitmenschen werden versorgt

Während der russischen Invasion in Donezk im Jahr 2014 erfolgte eine deutliche Veränderung in der ukrainischen Kirche bezüglich ihrer Verpflichtung, ihren politischen Gemeinden zu dienen; beobachtete Keith Daniel.

Er nennt ein christliches Projekt, das er in einer kleinen Stadt namens Mar'inka in der Nähe von Donezk entstehen sah. «Eine Bäckerei versorgte dort die Region. Aber sie wurde bombardiert. Die christliche Gemeinde bekam Geld aus Europa. Die Christen mieteten ein Gebäude, eröffneten eine Bäckerei und stellten das Personal der zerstörten Bäckerei ein. Das Haus wurde zum Knotenpunkt für die Ortschaft. Und im zweiten Stock traf sich die Kirche – nicht konfessionell, sondern für alle.»

Heute beobachtet Pastor Victor einen Frieden und eine Ruhe bei den Menschen, mit denen er in Kontakt ist. «Ich war überrascht, wie viele Personen bereit sind, wirklich etwas für andere zu opfern.» Und Pastor Keith hält fest: «Es ist eine wirklich reife Gemeinde. Sie ist selbsttragend und selbstvermehrend. Ich denke, die Kirche in der Ukraine könnte unseren Kirchen im Westen viel beibringen.»

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Datum: 28.03.2022
Autor: Ben Cohen / Daniel Gerber
Quelle: Open Doors / Livenet

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