Schlimmer als der Bürgerkrieg

Die Not im Libanon und der Beitrag evangelischer Christen

Am Treffen libanesischer Christen in Rom vom 28. Juni bis 1. Juli zur katastrophalen Lage in ihrer Heimat nahmen orthodoxe und katholisch-orientalische Patriarchen, aber auch der evangelische Kirchenpräsident von Syrien und Libanon, Pfarrer Joseph Kassab, teil. Sein Beitrag wurde aber in der Berichterstattung fast vergessen. Heinz Gstrein holt dies hier nach.
Joseph Kassab (Bild: theoutreachfoundation.org)

Während vor allem der Maroniten-Patriarch Beschara Butros Rai das grosse Wort führte, war der Presbyterianer Kassab mehr oder weniger zum Schweigen verurteilt. Nicht einmal sein Name wurde in der Berichterstattung richtig geschrieben.

Der vergessene Pfarrer

In den Reportagen «Libanon-Gipfel im Vatikan» war von einem Joseph «Kassabhas» die Rede. Sollte er selbst bei den Kirchenjournalistinnen und -journalisten anderer Konfessionen wirklich nicht bekannt genug sein, so gibt es da noch seine Frau, Pastorin Nadschla Kassab. Sie wurde schon 2017 zur Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) gewählt. Beide stehen im Dienst der «Nationalen Evangelischen Kirche in Syrien und Libanon». Auch diese Übersetzung ist nicht ganz richtig, da «Watania» nicht nationale, sondern «arabischsprachige» Kirche bedeutet.

Kirche aus den Trümmern

Joseph Kassab, der aus Aleppo stammt, lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Beirut, kennt also die Schrecken von zwei Bürgerkriegen sowie die zuletzt ausufernde Not in Libanon. In seiner Heimatstadt musste er 2015 miterleben, wie Terroristen vom Islamischen Staat (IS) die Kirche seiner Gemeinschaft mit Dynamit in die Luft sprengten. 2019 ist sie neu aus den Trümmern erstanden. Kassab konnte sagen: «Dies ist ein Zeichen unseres Ausharrens in der Hoffnung. Was immer an Kirchengebäuden zerstört wird: Wir werden sie für die Gemeinde der Gläubigen wiedererrichten!»

Berufen zu bleiben

Er ergänzte damals: «…um in diesem Nahost zu bleiben, in Frieden zu leben und den Glauben Jesu rundum zu bezeugen, der das Dunkel zerstreut!» Jetzt in seiner Beiruter Wohnung, die noch Spuren der verheerenden Explosion vom August 2020 trägt, ist Kassabs Zuversicht nicht gebrochen: «Der Christenglaube schenkt wie kein anderer Trost und Hoffnung, sei es in Bürgerkriegen oder Armut und Not.» Er fügt hinzu: «Deshalb sind unsere christlichen Minderheiten zum Überleben berufen, zu positivem Einfluss in einem Kontext, der von einer konfessionellen Gesellschaft erfüllt ist.»

In Libanons Nachkriegszeit sind keine Explosionen und Kämpfe mehr das Problem, es fallen keine Bomben mehr. Doch reisst eine andere Bombe ihre Krater: jene der Armut. Ihre Trümmer suchen neun Zehntel der Bevölkerung heim. Nach dem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 liegt der Wiederaufbau im Argen, es gibt immer noch keinen wirtschaftlichen Aufbruch und die Befriedung steht still. Es fehlt an allem, in Beirut drängen sich Motorfahrzeuge an den Tankstellen. Obwohl alle Arten von Treib- und Schmierstoffen gerade um ein Drittel teurer wurden.

Christen betreiben Bäckereien

Dasselbe gilt für die Nahrungsmitteln, sogar fürs Brot. Die meisten evangelischen Christen, die schon den Bürgerkrieg nach Zerstörung der Kirchen als Hausgemeinden mit Selbstversorgung überlebt hatten, betreiben jetzt Bäckereien, oft in ihren früheren Bibliotheken. «Der Mensch lebt nicht von Brot allein», bekräftigt Bäckermeister Dimitri beim Formen von Brotlaiben, «doch ebenso wenig können wir Papier essen. Kiloweise treiben meine Mitarbeiter am Schwarzmarkt Mehl auf, den Backofen habe ich aus einer Bombenruine 'organisiert', wie man das heute in Beirut nennt!»

Für Kirchenpräsident Kassab müssen wir «inmitten von so viel Schmerz eine bessere Kirche werden». In einem Gespräch mit der US-amerikanischen Zeitschrift «Christianity Today» forderte er: «Wir sind nicht dazu berufen, in den Kirchenbänken sitzen zu bleiben, sondern Jesus zu bekennen und für sein Reich zu wirken!» Und fährt fort: «Nach Libanon bin ich 1984 gekommen, habe die schlimmsten Bürgerkriegsszeiten mitgemacht. Doch nie war das Elend so gross!» Joseph Kassab ruft zu Solidarität aller von Jesus Erweckten der Welt auf: «Libanons Menschen verdienen bessere Tage!»

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Datum: 09.07.2021
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

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