Hinterbliebene fragen

«Warum hast du dich umgebracht?»

Auch unter Christen wird das Recht auf ein selbst bestimmtes Lebensende immer häufiger diskutiert. Was bei der Diskussion meistens nicht zur Sprache kommt, sind die Hinterbliebenen. Wie gehen sie mit dem Verlust um? Mit Schuldfragen? Und wie kann die christliche Gemeinde hier helfen?
Familie trauert um toten Vater

«Als Manuela (Namen von der Redaktion geändert) von Utes Tod erfährt, geht sie in das Badezimmer und wirft die Zahnbürste in den Mülleimer. 'Die braucht sie ja jetzt nicht mehr.' Das ist ihre erste Reaktion. 'Ich war wie im Vakuum, wie in Trance. Alles erschien mir so surreal. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Warum? Warum hat sie es getan?'» So beginnt ein berührender Bericht in der Wochenzeitung «Christ & Welt», der diejenigen in den Blick nimmt, die bei einem Freitod oft vergessen werden: die Hinterbliebenen.

Was ist mit denen, die weiterleben?

Um die 10'000 Menschen bringen sich allein in Deutschland jährlich um. Fast 100'000 überleben ihren Suizidversuch, doch viele versuchen es später wieder – erfolgreich. Damit sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Und jedes Mal sind Angehörige und Freunde davon betroffen. Im Schnitt hinterlässt jeder Mensch, der in den Tod geht, sechs Personen, die ihm nahestehen. Es gibt jährlich also rund 60'000 Hinterbliebene durch Selbsttötung.

Das sind erst einmal nur Zahlen, doch dahinter stecken Schicksale, die normalerweise im Dunkeln bleiben. Wie das von Manuela oben. Verzweifelte Ehepartner, zerrüttete Familien, Trauernde, die sich alleingelassen fühlen. Die öffentliche Diskussion dreht sich um die Motive für Freitod, unter Christen oft um die Frage, ob es das vermeintliche Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende überhaupt geben sollte. Doch kaum jemand spricht über das Schicksal der Hinterbliebenen. Was ist mit denen, die übrig bleiben? Die nach dem Verlust eines lieben Menschen ihren eigenen Weg finden müssen? Die weiterleben?

Die Frage der Schuld

Manuela hat sich oft gefragt, ob sie Utes Tod hätte verhindern können, ob sie eine Mitschuld trägt oder an ihr versagt hat. Hätte sie merken müssen, dass Ute nicht mehr wollte? Manuela hat gemerkt, dass etwas in ihrer Freundin arbeitet, dass sie sich verändert hat. Anders als die meisten spricht sie sie direkt an: «Du tust dir doch nichts an?» Ute verneint. Als Manuela am nächsten Tag einen Arzttermin hat, fragt sie, ob sie da bleiben und den Termin absagen soll. «Nein, geh nur», antwortet Ute, «bis später.» Und dann verlässt auch sie die Wohnung, um sich das Leben zu nehmen...

Der Ablauf ist sicher in jedem Fall anders, doch die Fragen der Hinterbliebenen ähneln sich: Hätte ich die Vorzeichen nicht sehen müssen? Habe ich Schuld? Warum hat mich der andere alleingelassen? Hätte ich es verhindern können?

«Das Leben geht doch weiter»

Thorsten, dessen Sohn mit seinem Auto gegen einen Baum gefahren ist, erlebt die Zeit danach als Horror. «Die meisten unserer Freunde konnten mit unserer Trauer einfach nicht umgehen. Sie hatten vor allem keine Geduld. Die erwarten dann, dass du nach wenigen Monaten wieder gut drauf bist. Aber wenn dein Sohn sich umbringt, dann hilft auch ein 'Das Leben geht weiter' nicht. Ja, das Leben geht weiter. Aber anders.»

Manchmal tut es in dieser Situation weh, über den Verlust zu reden, oft schmerzt mehr das betretene Schweigen, das Verdrängen des Verstorbenen. Manuela bringt es auf den Punkt: «Man selbst läuft mit einer riesigen Wunde durchs Leben. Aber niemand scheint das zu sehen.»

Wie kann Hilfe aussehen?

Keiner kann die offenen Fragen klären, die eine Selbsttötung auslöst. Doch auch wenn es kein Patentrezept für den Umgang mit Hinterbliebenen gibt, werden ein paar Dinge meist als hilfreich empfunden:

  • Nicht von «Selbstmord» reden, der Betroffene ist nicht kriminell, ist kein Mörder.
  • Geduld mit den Hinterbliebenen haben. Ihre Wunden werden weder nach sechs Wochen noch nach sechs Monaten verheilt sein.
  • Für sie da sein und immer wieder signalisieren: Ich denke an dich und fühle mit dir.
  • Die offene Schuldfrage nicht auf die Hinterbliebenen übertragen. Viele erleben es wie Manuela: «Wäre Ute an Krebs gestorben, ich würde mehr Mitgefühl erfahren.»
  • Psychische Krankheit und Suizid offen thematisieren. Niemand ist automatisch davor geschützt – auch Christen nicht.

Heraus aus dem Tabubereich

Gerade im christlichen Kontext ist Freitod und der Umgang damit immer noch stark tabuisiert. Und oft wird dabei alles in einen Topf geworfen. Über die Selbstbestimmung, sein Leben als alter, kranker Mensch zu beenden, sollte man diskutieren und dabei auch fragen, wo Freiheit endet und Schuld beginnt. Die meisten Suizid-Kandidaten gehen allerdings nicht in solch einen «Freitod», viele sind psychisch krank, innerlich am Ende, sehen keinen Ausweg mehr.

Nachdem sich 2013 der Sohn des bekannten US-Predigers und Autors Rick Warren das Leben genommen hatte, hat dieser sich mit seiner Frau für ein Jahr zur Trauerarbeit zurückgezogen. Inzwischen thematisiert er bei jeder Gelegenheit die Situation psychisch kranker Menschen, die es natürlich auch im Gemeindeumfeld gibt. Warren hält für sich selber fest, wie er die dunkelste Zeit seines Lebens als Hinterbliebener überstanden hat: «Die Antwort ist Jesus Christus. Wir hätten durch diese schwierige Zeit nicht alleine gehen können. Und wenn du jetzt voller Schmerz bist, brauchst du andere Menschen. Du brauchst eine christliche Gemeinde.» Und die christliche Gemeinde braucht die Perspektive Gottes, damit sie Angeschlagenen, psychisch Kranken, aber auch Hinterbliebenen in seiner Liebe begegnen kann.

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Datum: 24.10.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christ & Welt

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