Der Mensch, ein «homo socialis»

Warum wir (nicht) lieben können

Liebe ist im realen Leben allgegenwärtig. Jeder hat ein Bedürfnis nach Liebe, das durch kulturelle Veränderungen oder den technischen Fortschritt nicht beseitigt werden kann. Der Mensch ist ein homo socialis, ein Beziehungswesen. Das ist unbestritten für jeden, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Der Theologe Dieter Bösser hat sich dazu Gedanken gemacht.
Paar (Symbolbild)
Dieter Bösser
Cover des aktuellen Magazin INSIST

Durch psychologische Untersuchungen lassen sich zahlreiche Erscheinungsformen und Facetten von Liebe beschreiben: Wo und in welchem Ausmass diese vorhanden sind, was ihr Vorkommen begünstigt bzw. einschränkt. Es lässt sich zudem beschreiben, wie Liebe in unterschiedlichen Kontexten «funktioniert».

Empirische Psychologie am Anschlag

Einzelne Facetten wurden in verschiedenen Theorien und Begriffen zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Die Dreieckstheorie der Liebe geht beispielsweise davon aus, dass Liebe sich aus drei Bestandteilen zusammensetzt: Intimität, Leidenschaft und Verbindlichkeit. Dabei müssen nicht immer alle drei Komponenten in einer Liebesbeziehung vorhanden sein und schon gar nicht in gleichem Ausmass.

Aber im eigentlichen Sinne zu erklären, warum wir lieben können, ist wesentlich schwieriger und mit den Methoden der empirischen Psychologie kaum möglich. Erklärungen werden oft von Grundannahmen mitbestimmt, die über das Erforschbare im engeren Sinne hinausgehen. Wahrscheinlich werden wir dem komplexen und geheimnisvollen Phänomen «Liebe» nur ansatzweise auf die Spur kommen.

Warum wir lieben können

Enge und vor allem dauerhafte Beziehungen sind ohne Emotionen und ohne das, was man Liebe nennt, eigentlich nicht möglich. Dabei darf Liebe nicht mit dem Glücksgefühl gleichgesetzt werden, das in unzähligen Filmproduktionen dargestellt wird.

In einer engen Beziehung hätten wir solche Glücksgefühle gerne dauerhaft. Paare erleben sie vor allem in der Phase der Verliebtheit. Schon vor über 40 Jahren schrieb der Psychoanalytiker Erich Fromm, dass Liebe eine Kunst ist, die mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit unlösbar verbunden ist. In der Liebe zu einem anderen Menschen könne es überhaupt keine Erfüllung geben ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin. Wahrhaft zu lieben ist für Fromm keine einfache Aufgabe. Das wissen alle, die seit vielen Jahren verheiratet sind. Sie können aber auch die Früchte einer Liebesbeziehung benennen, die mit den Jahren in einer gesunden Beziehung heranreifen. Menschen sind demnach grundsätzlich in der Lage zu lieben, für eine dauerhafte Beziehung müssen sie es auch wollen.

Der Schweizer Psychiater Jürg Willi schreibt von einem Liebessehnen, das tiefer geht als die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Akzeptiertwerden, Umsorgung und Bestätigung. Die meisten Menschen kennen laut Willi diese Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in unbedingter Liebe. Ihre Erfüllung könne in einer Lebensgemeinschaft gefunden werden, aber auch in einer kreativen Tätigkeit, in der Arbeit, in der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Schliesslich könne ihre Erfüllung in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott erfahren werden, in Meditation und Gebet. Dieses vollkommene Aufgehobensein in der Liebe beschränkt sich nach Willi auf Momente des Glücks und kann leider nicht bewahrt werden. Das ist schmerzhaft. «Wer diesen Schmerz nicht ernst nimmt, versteht nichts von Paarbeziehungen».

Warum wir nicht lieben können

In unserer individualistischen Gesellschaft sind wir immer mehr zu individuellen Nutzenmaximierern geworden: Wo und wie bekomme ich am meisten für meine Investition (Geld, Rücksichtnahme, Liebe, etc.)? Im Extremfall können Entscheidungen zu einem unerträglichen Stress werden: Woher weiss ich, dass es nicht noch etwas Besseres für mich gibt? Wie viele Menschen werden dadurch von dem Eingehen einer Ehebeziehung abgehalten?

Trotzdem ist die Sehnsucht nach einer einzigartigen Zweierbeziehung noch vorhanden. Die NZZ-Redakteurin Brigit Schmid schrieb am 10. März 2017: «Die Sharing Economy von Beziehungen negiert, dass Liebe ausschliesslich sein will. Dass einem ein Mensch alles bedeuten kann – und dies häufiger vorkommt, als dass einem mehrere Menschen gleich viel bedeuten. Liebe sucht das einzigartige Gefühl, das unvergleichliche. Und solange das so bleibt, so lange wird es die Eifersucht geben; eine Leidenschaft, die sich nicht sublimieren lässt.»

Im Blick auf die eingeschränkte Fähigkeit, eine dauerhafte Liebesbeziehung einzugehen, deren individueller Nutzen nicht in jedem Moment ersichtlich ist, kann man von einer sozialen Krankheit sprechen. Dieses Phänomen zeigt sich unter anderem in der Entwicklung der Haushalte in der Schweiz. Seit 1990 machen die Einpersonen-Haushalte den grössten Anteil aus. Dahinter stehen verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen. Geht man davon aus, dass das familiäre Zusammenleben ein wichtiges Lernfeld ist für die Erfahrung von liebevollen Beziehungen, dann ist das durchaus bedenklich.

Was die Liebesfähigkeit einschränkt

Bei Menschen, die unfähig sind zu lieben, liegt eine psychische Störung vor. In extremen Fällen ist das eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Damit ist ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer gemeint. Solche Menschen sind in einem erheblichen Mass auf sich selbst bezogen und unfähig zur Empathie. Fügen sie anderen Menschen erheblichen Schaden (z.B. Körperverletzung) zu, landen viele im Gefängnis. Dazu können auch Tötungsdelikte gehören, für die die wenigsten Täter Reue zeigen.

Die Liebesfähigkeit von Menschen wird auch durch Traumatisierungen beeinträchtigt. Durch die Aufarbeitung der verletzenden Erlebnisse kann die Liebesfähigkeit weitgehend oder gänzlich wieder hergestellt werden. In diesem Prozess ist Vergebung gegenüber dem Täter ein wichtiges Element. Auch Personen, die von einer autistischen Störung oder einer Borderline-Störung betroffen sind, haben erhebliche Schwierigkeiten, liebevolle Beziehungen zu gestalten.

Ein altbekannter Liebeskiller sind Konflikte. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt ein neunstufiges Modell der Konflikteskalation. Bereits auf den ersten drei Stufen finden tiefgreifende Veränderungen bei den Konfliktparteien statt: in ihrer Wahrnehmung, ihren Gedanken, Gefühlen, Absichten und Handlungen. Konflikte können eine starke negative Eigendynamik entfalten, man wird einander immer mehr zum Gegner bzw. zum Feind. Das kann in allen Formen menschlichen Zusammenlebens vorkommen. In ehelichen Beziehungen sind Konflikte ein verbreiteter Scheidungsgrund. Oft reicht heute auch schon das Gefühl, dass die liebevollen Gefühle füreinander erloschen sind. J. Willi schreibt dazu: «Mich dünkt, vielen Menschen mangle es heute an Vertrauen in die Verbesserungswürdigkeit und Verbesserungsmöglichkeiten ihres Zusammenlebens. Es fehlt die Überzeugung, dass es für die persönliche Entwicklung ein Gewinn sein kann, längerdauernde Krisen in einer Partnerschaft durchzustehen».

Fazit

Zum Glück müssen wir nicht alles verstehen, was wir im Alltag erleben und praktizieren. Das gilt auch für die Liebe. Menschen sind fähig zur Liebe und können einander oft ohne fachliche Unterstützung Liebe erweisen und sich an der Liebe anderer erfreuen. Das ist gut so und ein eindrücklicher Hinweis auf die Weisheit, die unser Schöpfer in seine Schöpfung hineingelegt hat!

Dieter Bösser, MTh und MSc UZH, ist Leiter des Bereichs Beruf bei der VBG.

Diesen Artikel hat Dieter Bösser für das Magazin INSIST geschrieben.

Datum: 08.03.2018
Autor: Dieter Bösser
Quelle: Magazin INSIST

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