Bullingers Wirkung unter den Ungarn

„Gott spricht auch jetzt noch zu uns“

Das Zweite Helvetische Bekenntnis von Bullinger ist vielleicht nirgendwo so lebendig wie bei den Reformierten ungarischer Sprache in Ungarn und Rumänien. Istvan Tökes, ein herausragender Vertreter dieser Kirche, weilte im August in Zürich. Er ruft dazu auf, in der Kirche auf Gott zu hören.
Geistliche Spannkraft mit 88: Istvan Tökes in Zürich
Heinrich Bullinger förderte die Ausbildung ungarischer Pfarrer.
Tafel in der Bullinger-Ausstellung im Grossmünster
Vorposten der evangelischen Christenheit in Südosteuropa: Das Hauptgebäude der Universität Cluj(Kolozsvar).
Die Bullinger-Ausstellung im Grossmünster dauert bis zum 17. Oktober.
Theologische Fakultät Zürich beim Grossmünster: Mit der Reformation bekam die Ausbildung von Pfarrern als geistlichen Lehrern des Volks oberste Priorität.
Hauptschiff mit ehemaligem Altar

Istvan Tökes ist 88, aber das will man nicht wahrhaben. Der kämpferische Geist hat den Theologen die Gewalt der rumänischen Kommunisten überleben lassen – und nicht nur ihn: Am Widerstand seines Sohnes Laszlo Tökes, Pfarrer in Timisoara, entzündete sich Ende 1989 der Aufstand gegen Ceausescu, der zum Sturz des Tyrannen führte. Kämpferisches Engagement für die Kirche ist noch heute jedem Sätze des Vaters abzuspüren.

Siebenbürgen, das Land im Karpatenbogen, kam 1920, wenige Jahre nach Istvan Tökes’ Geburt, an Rumänien; seit dem Mittelalter hatte es zu Ungarn gehört. Die reformierten Ungarn in Siebenbürgen, die stärkste evangelische Kirche in Südosteuropa, fühlten sich seit der Reformationszeit mit der Schweiz besonders verbunden.

Wenig geistlicher Austausch Schweiz - Rumänien

Istvan Tökes empfindet, dass heute die Schweizer Kirchen materiell helfen (wofür er dankt), aber kaum geistlicher Austausch stattfindet. Und das gefällt ihm nicht. Es sei zwar gut, dass die Schweizer Reformierten „uns unterstützen, aber ich möchte ihnen sagen: Für mich wäre es besser, wenn die Schweizer uns auch geistlich ein bisschen mehr geben würden.“

Selbstkritisch sagt er im Gespräch mit Livenet, die Reformierten in Rumänien bäten auch nicht darum. Der 88-jährige erinnert sich an den sehr regen theologischen Austausch vor dem Zweiten Weltkrieg und in den 50-er und 60-er Jahren, als Karl Barth, Emil Brunner und Eduard Thurneysen in Basel und Zürich lehrten.

Reformatorische Geburtshilfe aus der Schweiz

Die Verbindungen zur Schweiz gehen zurück auf die Reformationszeit, als Heinrich Bullinger die Zürcher Kirche leitete und Geburtshilfe für die ungarische Reformierte Kirche leistete. Istvan Tökes war Professor für Neues Testament in Cluj (für die Ungarn immer noch Kolozsvar; deutsch Klausenburg). Mit seinen 88 Jahren ist er der älteste Teilnehmer am Forscherkongress zum 500. Geburtstag von Bullinger (1504-1575).

Mit gutem Grund weilt er in Zürich: Im 16. Jahrhundert hat das von Bullinger verfasste Zweite Helvetische Bekenntnis, wenn man die nicht-deutschen Ausgaben zählt, „unter den Ungarn die grösste Wirkung gehabt“. Tökes hat nachgezählt: Die ‚Helvetica’, wie er sie knapp nennt, wurde in der Reformationszeit in deutscher Sprache 24 Mal herausgegeben, englisch sieben- und holländisch sechsmal.

Zweites Helvetisches Bekenntnis: ‚grösste Wirkung in der ungarischen Kirche’

Die ungarische reformierte Kirche hat das Bekenntnis ihres Glaubens, das aus Zürich stammt, nicht weniger als 28 Mal gedruckt. „Das bedeutet eine ständige Beziehung auf geistlicher Ebene – und diese Beziehung fehlt heute. Dabei ist die aktuelle Wirkung Bullingers in der ungarischen reformierten Kirche grösser als in allen anderen Kirchen.“ Was die Ungarn schreiben würden, werde aber nicht zur Kenntnis genommen.“

Istvan Tökes hat eine Studie verfasst (in seiner Sprache), die zur Wirkung Bullingers einen Überblick gibt. Zum Kongress, sagt er mit hörbarer Enttäuschung, sei niemand aus Ungarn und Rumänien als Referent eingeladen worden…

Dabei könne man, was reformierte Grundlagen betrifft, in seiner Kirche „in manchen Problemen vielleicht eine bessere Antwort“ geben. In dieser Aussage kommt das Selbstbewusstsein des Theologen zum Ausdruck, dessen Sohn Laszlo heute als Bischof einem Teil der Reformierten Rumäniens vorsteht.

‚Bei uns ist der Geist Bullingers lebendiger als in der Schweiz’

Anders als im Westen ist der Reformator Bullinger laut Tökes in seiner Kirche nicht vergessen worden. „Der Geist Bullingers in der ungarischsprachigen reformierten Kirche ist lebendiger als hier in der Schweiz.“ Dabei kenne seine Kirche von Bullinger nur zwei Schriften: einen ausführlichen, grundlegenden Brief an die Leiter (1551) und das Bekenntnis.

Der Zürcher Reformator hatte im Alter angesichts der Pest, als er dem Tod in die Augen sah, seinen Glauben als Vermächtnis ausführlich formuliert. Das mehrere Dutzend Seiten umfassende Bekenntnis wurde ab 1566 als ‚Zweites Helvetisches Bekenntnis’ von den meisten reformierten Kirchen Europas angenommen. Es trug wesentlich zu ihrer gemeinsamen Identität bei und ist heute die wichtigste Bekenntnisschrift der Reformierten weltweit.

Helvetica wird gelehrt und geprüft

Istvan Tökes findet es schade, dass an den reformierten Fakultäten im Westen die ‚Helvetica’ nur noch von historischem Interesse ist, als eine von vielen Schriften der Kirchengeschichte. In Cluj sei das ganz anders: „An unserer Fakultät ist das Studium des Textes obligatorisch für jeden Studenten. Die Helvetica wird gelehrt. Es kann niemand Pfarrer werden, ohne in einer Prüfung seine Kenntnis bewiesen zu haben. Das heisst, die theologische Fakultät Kolozsvar pflegt noch heute eine sehr tiefe Beziehung mit dem Geist Bullingers.“

Hierin unterscheide sich seine Hochschule von Budapest und Sarospatak, von Göttingen und Zürich, betont der rüstige Greis. „Ohne Helvetica gibt es keine reformierte Kirche, ohne Helvetica gibt es keinen Pfarrer in einer reformierten Gemeinde.“ Die Pfarrer seiner Kirche, die sich intensiv mit Bullingers Lehre befasst hätten, schlügen auch in der Helvetica nach, um Fragen des Gemeindelebens zu lösen – und sie predigten in den Bahnen des Bekenntnisses.

In der Predigt ‚spricht Gott auch jetzt noch zu uns’

Zur Geltung der Bibel formulierte Bullinger im ersten Kapitel der Helvetica Sätze, die reformiertes Kirchenverständnis und besonders den reformierten Wort-Gottesdienst über Jahrhunderte bestimmt haben. Das Bekenntnis beginnt mit den Worten: „Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen.“

„Denn Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften. Und in dieser Heiligen Schrift besitzt die ganze Kirche Christi eine vollständige Darstellung dessen, was immer zu rechten Belehrung über den seligmachenden Glauben und ein Gott wohlgefälliges Leben gehört…“

In der Predigt des Pfarrers redet Gott selbst…

Im Eingangskapitel seines Bekenntnisses verweist Bullinger weiter auf den Apostel Paulus, der den Christen in Thessalonich schrieb, sie hätten den Inhalt seiner Predigt nicht als Wort eines Menschen, sondern als Gottes Wort angenommen, und zitiert dann, was Jesus seinen Jüngern sagte: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich.“

Für seine Zeit, nach fast 1500 Jahren Kirchengeschichte, folgerte der Reformator: „Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmässig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen wird.“

Aus diesem Verständnis der Predigt, wie es Bullinger den Reformierten auf den Weg gab, lebt die Kirche, hat sie auch heute ihre Dynamik zu schöpfen, glaubt Tökes. Für die theologische Prüfung müsse jeder Kandidat in Cluj dieses Kapitel verinnerlicht haben.

Von neueren westlichen Theologen werde das reformierte Nachdenken über den Glauben in Rumänien dagegen weniger befruchtet, sagt der dynamische Greis, Zeuge des 20. Jahrhunderts. Das hat auch zu tun mit der Isolierung, welche die Sowjets durch den Eisernen Vorhang ihren Satellitenstaaten aufzwangen. „Wir lebten über vier Jahrzehnte unter russischer Herrschaft, vom Westen ganz getrennt.“

…und dafür ist heute zu kämpfen

Auch in Rumänien gehen bei weitem nicht alle Reformierten in die Kirche, um Gottes Wort für sich zu vernehmen – „aber mehr als hier in der Schweiz“. Warum? fragt Tökes und gibt gleich die Antwort: „Weil die Wirkung Bullingers bei uns grösser ist. Das ist die Realität.“ Mit dem Predigtbesuch zufrieden ist er zwar nicht – „aber Deutschland und die Schweiz sind ganz einfach zurückgeblieben.“ Das hänge damit zusammen, dass man Bullinger vergessen habe. „Heute haben wir einen schweren Kampf dafür, dass dieses Wort in der Predigt wirklich das Wort des Herrn sei.“

Zürcher Bettags-Kollekte 2004 für die Sanierung des Gebäudes der Protestantisch-Theologischen Fakultät in Klausenburg (Cluj):
zh.ref.ch/content/e3/e1144/e1161/e1492/e7370/Bettag04BettagsKollektenaufruf.doc

Datum: 25.10.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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