«Die Islamisten waren in Europa bisher erfolgreich»

„Wir haben den Islamisten das Feld sträflich überlassen“: Bassam Tibi in Zürich.
In Südostasien hat der Islam ein eigenes Gepräge: Moschee in Indonesien.
„Den Islam gibt es nicht“: Tibi unterscheidet zwischen gemässigten Muslimen, Islamisten und Dschihadisten.
Kampf um die Herzen der jungen Muslime: Albaner-Moschee in Winterthur.
In Moschee-Schulräumen wird indoktriniert: Bassam Tibi wirft den deutschen Behörden Blauäugigkeit vor.

Ist das Projekt eines liberalen Euro-Islam gescheitert? Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der den Begriff prägte, hat sich enttäuscht aus Deutschland zurückgezogen. Im Gespräch mit Livenet warnt der weitgereiste Muslim vor den angeblich moderaten Islamisten – und will die Hoffnung nicht aufgeben.

Livenet.ch: Bassam Tibi, was sagen Sie zur These: ‚Es gibt keinen moderaten Islam, nur gemässigte Muslime’?
Bassam Tibi:
Sie stimmt nicht, denn der Islam, das sind die Menschen, die ihn vertreten und die daran glauben. Islamisten und orthodoxe Muslime sagen in der Tat: Es gibt einen Islam. Aber was ist der Islam? Es gibt heilige Schriften im Islam und Traditionen, aber der Islam ist das, was die Menschen, die an ihn glauben, verkörpern. Deswegen gibt es den Islam des 20. Jahrhunderts und den Islam des 19. Jahrhunderts.

Als gebürtiger Syrer kenne ich den arabischen Islam. Ich habe in Westafrika und Südostasien gelebt und verschiedene Spielarten des Islam gesehen. Der Islam in Indonesien ist nicht der Islam in Senegal. Den Islam gibt es nicht, weder den moderaten noch den radikalen.

Hat das Gewicht der nicht-arabischen Ausprägungen des Islam in den letzten 30 Jahren zugenommen?
Ja, aber der nahöstliche Islam bleibt der Kern – leider, sage ich, denn der nahöstliche politische Islam ist radikal und militant. In Indonesien habe ich einen zivilen Islam erlebt, auch wenn es starke Islamisierungsbestrebungen gibt und die Islamisten in Aceh nach dem Tsunami an die Macht gekommen sind. Auf Java hörte ich nahöstliche Prediger den Einheimischen sagen, ihr Islam sei falsch, richtig sei allein der wahhabitische, in Saudi-Arabien geltende Islam.

Auch in Malaysia gibt es islamistische Provinzregierungen. Bestrebungen zur Islamisierung laufen überall. Islamische Gelehrte greifen auf die Scharia zurück, um den Menschen angesichts der Modernisierung einen Halt zu geben.
Wir müssen unterscheiden zwischen den Islamgelehrten (ulema) und den Islamisten. Die Islamgelehrten, die an den Universitäten der islamischen Welt studiert haben, sind reaktionär und nicht meine Freunde. Ich will sie nicht verteidigen. Sie stellen das religiöse Establishment dar und sind der Moderne gegenüber nicht positiv eingestellt, lehnen auch unsere Toleranz ab.

Die Islamisten dagegen sind in der Regel Laien, die oft im Westen studiert haben. In Kairo stammen die Islamisten nicht von der Azhar-Universität, sondern haben säkulare Universitäten durchlaufen. Manche sind Naturwissenschaftler oder Ingenieure. Es gibt eine Krise der Moderne. Die modernen Muslime wollten sich die Instrumente der Moderne, nicht aber deren Werte aneignen. Das Resultat ist eine halbe Moderne, ein Unternehmen, das zum Scheitern verurteilt ist.

Sayyid Qutb, der zweite Begründer des Islamismus, lebte in den USA.
Ja, er lebte 1949-50 in New York. In diesen Jahren wurde er Islamist; 1951 trat er der Muslimbruderschaft bei.

Gebildete Söhne aus Kairo, die in Deutschland studiert hatten, und britische Muslime, die Familie und ein Auskommen hatten, entpuppten sich in Terroranschlägen als extremistische Islamisten. Warum?
Die Europäer verschliessen die Augen vor den Problemen. Man stellt sich vor, dass die Muslime, die hier leben, die Brücke zwischen Europa und der Welt des Islam sein werden. Jocelyn Cesari hat in einem Buch Europa als den Ort dargestellt, wo Islam und Demokratie sich treffen. 9/11 hat bewiesen: Dem ist nicht so.

Die Terroristen des 11. September hatten in Europa gelebt und sprachen westliche Sprachen. Der Ruf nach der Schari’a ist in der Islam-Diaspora im Westen stärker als etwa in Indonesien oder in Senegal. Etwas ist schief gelaufen in Europa: Die Islamisten waren bisher erfolgreich in der Eroberung der Herzen und Seelen der jungen Muslime.

Bildungshungrige Muslime hierzulande suchen den Draht zu ihrer Herkunftstradition.
Ich sage es so: Ein Muslim, der in Europa geboren wird, eine Muslima, die hier zur Welt kommt, ist ein leeres Blatt. Sie können das leere Blatt füllen, wie Sie wollen: europäisch-islamisch – ich habe den Begriff Euro-Islam geprägt – oder fundamentalistisch. Es läuft ein Kampf zwischen Europa und den Islamisten. Wir haben den Islamisten das Feld in sträflicher Weise überlassen. Die Moschee ist nicht bloss ein Ort des Gebets, sondern der Indoktrination geworden.

Ist das der Regelfall?
Es geschieht in den meisten Fällen. 2007 beteiligte ich mich an einer Arte-Sendung über die Al-Quds-Moschee in Hamburg, welche Mohammed Atta und andere Attentäter vor dem 11. September 2001 aufgesucht hatten. Monate nach dem Anschlag hat derselbe Imam Hetzreden gegen die Europäer und die Juden gehalten. Europäer stinken, sagte er, man darf sie nicht anfassen. Mitten in Hamburg wird so etwas gesagt – und niemand geht dagegen vor. Deutschland hat Strafbestimmungen gegen Volksverhetzung; getan wird jedoch nichts. Die Sendung kam im Fernsehen; dieser Imam kann weiter wirken.

Wie sollen Schweizer Kommunen mit Moscheebau-Projekten von islamischen Vereinen umgehen? Wie kommen wir dahin, dass in Moscheen gelehrt und gebetet, aber nicht indoktriniert wird?
Beim Gebet kann man nicht indoktrinieren. Ich habe mich in 20 islamischen Ländern aufgehalten, in Indonesien ein Jahr gelebt. In meiner Heimatstadt Damaskus haben die Moscheen kein Studienzentrum. In Deutschland hat fast jede neue Moschee ein solches Zentrum, und man behauptet, es gehöre dazu wie ein Minarett. Die Europäer fallen darauf herein und genehmigen die Bauten. In den Studienzentren wird indoktriniert. Die Ansprachen von Imamen im Freitagsgebet hören die Sicherheitsdienste mit. Aber in die Schulräume kommen sie nicht. Auch mich lassen die Verantwortlichen nicht in die Schulräume, die doch mit staatlicher Genehmigung gebaut wurden.

Muslime brauchen ‚sticks and carrots’, Anreize und zugleich das unzweideutige Beharren auf dem Rechtsstaat, das keine Spielchen zulässt. Die Islamisten versuchen diese Spielchen. Wenn Sie mit einem Islamisten reden, müssen Sie misstrauisch sein. Denn er erzählt Ihnen nicht, was er denkt. Seinen Zusicherungen können sie nicht trauen. Sie müssen klar machen, dass es keine Spielchen gibt – no games. Mit moderaten Muslimen können sie zusammenarbeiten, mit Islamisten müssen Sie sicherheitspolitisch umgehen.

Sie haben gesagt, dass der Islam als Lebensform im Westen nicht zu integrieren ist, der Islam als Kult jedoch schon. Wie meinen Sie das?
Die Lebensform hat eine politische Dimension. Nach klassischer islamischer Lehre darf sich der Muslim in einem nicht-islamischen Land nur temporär aufhalten – wie ein Gastarbeiter. Er muss sich in dieser Zeit einfügen in die Ordnung des Landes, in dem er lebt. Doch nun wachsen Millionen von Kindern und Jugendlichen, die hier geboren wurden, als Muslime auf. Sie müssen europäisch-islamisch sozialisiert werden. Das ist ein sehr schwieriges Projekt.

In Frankreich arbeitet man daran. Die Imame der Grossmoscheen von Marseille und Paris stehen für diesen Weg ein, mit Unterstützung der französischen Regierung. Die niederländische Regierung will in Rotterdam im Sinn eines liberalen Islam Imame ausbilden. Darin liegt für mich die einzige Hoffnung.

Für die jungen Muslime muss es eine Integrationspolitik geben, die mit Religion nichts zu tun hat. Die Staaten müssen ihnen das Gefühl geben, dass sie dazugehören. Dann können sie sich mit den Gesellschaften identifizieren. Die jungen Muslime brauchen eine Sozialisation in Europa – und parallel dazu eine Einführung in einen europäischen Islam.

Sie haben eine europäische Leitkultur gefordert. In der EU sind die nationalen Identitäten bestimmend. Europa wird nicht als eine Wertegemeinschaft erlebt. Eine europäische Leitkultur mag man von aussen wahrnehmen – mittendrin nicht.
Wenn die Europäer sich ihrer Werte nicht bewusst sind, sind sie auch Teil des Problems. Bei der Vorstellung meines Buchs ‚Europa ohne Identität? – Die Krise der multikulturellen Gesellschaft’ fragte mich der Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung: ‚Glauben Sie, dass es eine europäische Identität gibt?’ Ich sagte ihm: ‚Ich kann für Sie nicht glauben. Wenn Sie nicht daran glauben, werden Sie Probleme haben.’ Wenn die Europäer nicht wissen, wer sie sind, wie können sie den Muslimen eine Identität geben?

Ich bin von Deutschland enttäuscht und halte mich nun die meiste Zeit in den USA auf. Auch dort gibt es Islamisten. Selbst diese haben aber eine ‚American identity‘. Es gibt da ein Islam-Problem – doch es ist viel kleiner als in Europa.

Täuscht der Eindruck, dass Muslime hier die Schari’a zur Geltung bringen wollen in den weiten Räumen, die hiesige Rechtsordnungen offen lassen?
Ja, das ist nur der erste Schritt eines langen Marsches. Sie tun es im Bereich des Familienrechts und auf lange Sicht läuft es auf eine Anwendung der Schari’a hinaus.

Im Unterschied zu den Dschihadisten, die verrückt sind, sind die institutionellen Islamisten intelligente Strategen. Sie haben Vordenker. Sie wissen, was durchsetzbar ist und was noch nicht. Die sogenannt moderaten Islamisten halte ich für viel gefährlicher als die Terroristen. Denn sie marschieren durch das System, darauf bedacht, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.

Prof. Dr. Bassam Tibi, 1944 in Damaskus geboren, hat weltweit über Muslime und Moderne geforscht. Der Politikwissenschaftler und Autor von über 30 Büchern lehrt internationale Beziehungen an der Cornell University in den USA und an der Universität Göttingen.

Links zum Thema:
Bericht vom EVP-Fokustag vom 24. Januar 2009 mit Bassam Tibi, Christine Schirrmacher und anderen Referenten
Die Balance zwischen Religionsfreiheit, Toleranz und religiösem Pluralismus: Referat von Bassam Tibi am EVP-Fokustag
Bassam Tibis neustes Buch: Die islamische Herausforderung – Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts

Datum: 06.02.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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