Zwischen Schock und Chance

Deutschland hat gewählt

Am vergangenen Sonntag wurde in Deutschland der neue Bundestag gewählt. Dabei geschah ziemlich genau das, was die Prognosen vorher andeuteten: Die CDU blieb stärkste Kraft, verlor aber deutlich, die SPD rutschte auf ihren Allzeit-Tiefstand und die AfD zog als drittstärkste Partei in den Bundestag ein. Viele fragen sich: Und nun?
Bundestagsplenum
Wahlergebnisse 2017

Es war ein Erdbeben mit Ansage. Eigentlich konnte diese Wahl nicht «gut gehen», und das tat sie auch nicht. Viele Deutsche, ob Politiker oder Wähler, zeigen sich dennoch schockiert über den Zuwachs der «Alternative für Deutschland». Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden fasste nach der Wahl die Bedenken vieler zusammen: «Leider sind unsere Befürchtungen wahr geworden: Eine Partei, die rechtsextremes Gedankengut in ihre Reihen duldet und gegen Minderheiten in unserem Land hetzt, ist jetzt nicht nur in fast allen Länderparlamenten, sondern auch im Bundestag vertreten.»

Die Schuldfrage

Kaum war es klar, dass die rechtspopulistische AfD mit beträchtlichem Stimmzuwachs in den Deutschen Bundestag einziehen wird, begannen bereits die Analysen und es wurde die Schuldfrage gestellt. Für Martin Schulz (SPD) war klar, dass die Kanzlerin dies durch ihre Politik ermöglicht hat. Viele andere unterstrichen, dass CDU und SPD nicht mehr unterscheidbar gewesen wären. Dies habe die Wähler in die Arme der AfD getrieben. Eine echte Analyse liegt in den ersten Tagen nach der Wahl naturgemäss noch nicht vor, doch klassische Verhaltensmuster bestimmen die ersten Reaktionen bei vielen Kommentatoren: Angriff und Verteidigung. Für den Journalisten Michael Lühmann war (jedenfalls im Bundesland Sachsen) schnell ein Schuldiger gefunden: «ein weltfremder und welthassender, übersteigerter Evangelikalismus, der sich dem Lebensschutz, dem Islamhass und dem Kampf gegen Sexualität verschrieben hat». Demgegenüber nahm das christliche Medienmagazin pro die Christen schnell in Schutz: «AfD punktet vor allem bei Nichtchristen».

Bei allem Verständnis für Reaktionen wie «Wir waren es nicht – es müssen die anderen gewesen sein…», wird dies dem Phänomen AfD nicht gerecht. Jeder achte Wähler hat sie immerhin gewählt. Und offensichtlich betrifft dies nicht nur Menschen im Osten, Evangelikale, Arme, Neonazis oder andere leicht einzugrenzenden Gruppen in der Bevölkerung. Dass man oft niemanden kennt, der die AfD gewählt hat, liegt wahrscheinlich nicht daran, dass es solche Menschen im eigenen Umfeld nicht gibt. Vielleicht ist es ein bisschen wie beim RTL-Quotenrenner «Dschungelcamp», den keiner schaut, der aber von 7,5 Millionen Zuschauern gesehen wird… Was immerhin deutlich scheint, ist der Protestfaktor. Viele Wählerinnen und Wähler wollten wohl ihrer Unzufriedenheit, ihren Ängsten und Bedenken Raum geben, indem sie die AfD wählten. Den einzelnen Schuldigen wird man aber auch Wochen nach der Wahl nicht finden.

Die Möglichkeiten

Spannend wird die Frage, welche konstruktiven Möglichkeiten sich aus dieser Wahl ergeben. In der ZEIT gab es eine Umfrage zu den beiden rechnerischen Mehrheiten. Besonders nach der schnellen Ansage von Martin Schulz, mit der SPD die Opposition anzuführen, hat «Jamaika» hier viele Befürworter gefunden. In jedem Fall wird die Konstellation im Bundestag eine andere als die bisher gewohnte sein.

Die Chancen

Viele hätten nicht erwartet, dass der Rechtsruck in der Wahl so deutlich ausfällt. Immerhin trifft er Deutschland nicht in einer Krise, sondern mitten in einer Phase ausgeprägten wirtschaftlichen Wohlstands. Doch neben den Gefahren durch Rechtspopulismus werden auch die Chancen für die deutsche Demokratie immer deutlicher. Eine andere als die grosse Koalition könnte neue Akzente setzen, müsste ihr Miteinander neu gestalten. Eine SPD in der Opposition könnte soziale Ängste aufnehmen und im Parlament zur Sprache bringen, bevor sie zu rassistischen Gedanken umgewandelt würden. Und eine AfD, bei der erste Spitzenpolitiker noch vor dem Start im Bundestag ausscheiden und deren Parteivorsitzender sich darin gefällt, die Kanzlerin zu «jagen» und der «unser Land und unser Volk zurückholen» will, kann auch ein neues Bewusstsein schaffen für Werte, die Christen unabhängig von ihrer politischen Einstellung teilen: Einsatz fürs Leben und die Umwelt, für Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, und nicht zuletzt ein respektvoller Umgang miteinander.

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Datum: 27.09.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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