Margrit Stamm ermutigt

Starke Eltern – starke Kinder

Die Erziehungswissenschafterin und Psychologin Prof. Margrit Stamm wendet sich entschieden gegen moderne Dogmen in der Erziehung und fordert stattdessen die Eltern auf, sich von Leistungsdruck und Angstkultur zu befreien und Gelassenheit zu üben.
Margrit Stamm

Die Freiburger Erziehungswissenschafterin Prof. Margrit Stamm hat nach ihrem Rückzug aus dem Lehrbetrieb ein Institut aufgebaut, mit dem sie sich mit Familien- und Erziehungsfragen auseinandersetzt. Sie äussert sich immer wieder mit gesundem Menschenverstand und oft gegen den Mainstream zu Themen rund um die Lebenswelt unserer Kinder. Hier einige Kostproben.

Margrit Stamm äussert sich dezidiert zur Frage, was Eltern zum Erfolg ihrer Kinder beitragen können. Aber auch dazu, dass sie sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln. Sie räumt dabei mit beliebten Vorstellungen auf. 

Frühere Förderung bringt wenig oder nichts

Margrit Stamm spricht vom «Mythos der grenzenlosen Formbarkeit». Wörtlich: «Es ist keinesfalls so, dass Kinder kompetent auf die Welt kommen und wir ihnen folglich nur noch das Wesentliche beibringen müssen, z.B. das frühe Lesen- und Rechnenlernen, Fremdsprachen oder Ballett. Zwar sind kleine Kinder schon früh in der Lage, die Welt um sich herum zu erobern, zu entdecken und zu verstehen. Aber sie und ihre Bezugspersonen müssen dafür viel Zeit aufwenden, um die komplexe Welt an Lauten, Farben, Formen und Gegenständen und Beziehungen zu verstehen. Die Annahme ist widersinnig, dass kompetente Kleinkinder nach dem Motto 'Je früher, desto besser' nach bestimmten Vorstellungen geformt werden können. Zwar ist die Vorstellung richtig, dass sie besonders gut lernen können. Es besteht jedoch eine grosse Gefahr, dies mit grenzenloser Formbarkeit gleichzusetzen...».

Margrit Stamm wendet sich gegen den Druck auf die Eltern, ein solches Kind vorzeigen zu können: «Die Tatsache, dass sie die alleinige Verantwortung für das Wohlergehen und den Bildungserfolg des Kindes tragen müssen, treibt sie in Ängste und Gewissensbisse, die sie mit einem Hang zur perfekten Elternschaft zu bewältigen versuchen. Der kompetente Säugling ist ein Ausdruck dieses Zeitgeistes.»

«Quality Time» nicht mehr als Wunschdenken – und letztlich eine Lüge

Andererseits versuchen vielbeschäftigte Eltern, die knappe Zeit, die sie noch für die Kinder aufbringen können, mit dem Zauberwort «Quality Time» aufzuwerten. Dazu meint Prof. Stamm: «Mit dem Konzept ist die Vorstellung verknüpft, dass alles hochstehend sein muss: die Zeit für die Kinder und mit ihnen, Zweisamkeit und Gespräche mit der Partnerin oder das Zusammensein mit Freunden. Eine relaxte und unverplante Konzentration auf die Familie gilt deshalb nicht als erstrebenswert und gewöhnliche Quantitätszeit schon gar nicht, weil man dann nur passiv, aber nicht von Herzen engagiert ist. Dies ist jedoch ein Fehlschluss, denn man kann nicht einfach so die Zeiten intensiven Zusammenseins einplanen, damit Beziehungen automatisch gut oder fruchtbar werden und Kinder keine Qualitätseinbussen erleiden. Manchmal wollen Kinder auch einfach Quantitätszeit und nicht Qualitätszeit. Die Kinder wollen, dass de Papi oder s'Mami einfach da sind!»

Einige Eltern versuchten, den Zeitmangel mit Non-Stop-Aktivitäten am Wochenende auszubügeln. «Gelingt ihnen dies nicht, dann ist das schlechte Gewissen da und der Teufelskreis beginnt von vorne.»

Die Gefahr, sich in der Zeitfalle einzurichten

Das Problematischste am Quality Time-Konzept ist laut Stamm, dass es die Vorstellung unterstützt, man könne die Komplexität des Familiensystems reduzieren: «Deshalb beginnen viele Paare, sich auf die Qualitätszeit zu konzentrieren und sich gleichzeitig in der Zeitfalle einzurichten, ohne die Bedingungen zu verändern, welche diese hervorruft. Der Paarforscher Guy Bodenmann sagt deshalb, Veränderungen müssten beim Stress der Paare geschehen. Dieser führe nämlich dazu, dass sie keine Zeit mehr füreinander haben und keine gemeinsamen Erlebnisse. Wenn jeder sein eigenes Leben lebt, leidet das Wir-Gefühl. Auch wenn es auf den ersten Blick verheissungsvoll ist, bleibt das Quality Time-Konzept eine Lüge!»

Von der Angstkultur befreien und Gelassenheit üben

«Diese Angstkultur hat enorme Auswirkungen: Eltern sorgen sich Tag und Nacht, dass aus den Kindern nicht das werden könnte, was sie sich erhoffen, dass sie nicht fähig sein könnten, das Leben zu meistern – wenn sie sich als Vater oder Mutter nicht mächtig ins Zeug legen und störende Hindernisse, Emotionen oder unliebsame Erfahrungen von ihnen fern halten.

Wie könnten sich Eltern der Angst-Paranoia besser widersetzen? Indem sie immer wieder prüfen, welche Grenzen zum Schutz des Kindes gesetzt und eingehalten werden müssen und welche Grenzen es durch eigene Erfahrungen eindrücklicher erfahren kann als durch elterliche Mahnungen und Verbote. Nur so können Kinder über sich selbst hinauswachsen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Dies ist aber nur möglich, wenn Eltern – und manchmal auch Grosseltern – mehr Mut und Gelassenheit entwickeln und auch öfters den gesunden Menschenverstand walten lasse.

Deshalb sollten wir unsere Aufmerksamkeit zwar auf die frühe Kindheit legen und uns versichern, dass sie tatsächlich für den Aus- und Aufbau von wichtigen Kapazitäten wie Neugier, Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit oder Frustrationstoleranz genutzt wird. Genauso wäre zur Kenntnis zu nehmen, dass nach dem Vorschulalter keinesfalls alles hoffnungslos verloren ist. 'Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr' ist deshalb in dieser Formulierung inkorrekt. Vielmehr müsste sie heissen: 'Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans eine Herausforderung, eine zwar arbeitsintensive, aber eine, die ebenso Erfolg versprechen kann.'»

Anregungsreiche und liebevolle familiäre Umwelt besser als Frühförderung

«Eine anregungsreiche und liebevolle familiäre Umwelt ist für eine optimale Entwicklung ausreichend. Hingegen kann eine überehrgeizige Stimulation in Form von frühen Förderkursen schädlich sein, wenn sie das Kind in seiner eigeninitiierten Aktivität lähmen oder seine Bedürfnisse nicht berücksichtigen. Allerdings trifft dies für zwei Gruppen von Kindern nicht zu: für solche mit Entwicklungsstörungen und für Kinder aus stark benachteiligten Familien. Beide Gruppen brauchen eine gezielte und frühe Stimulierung und Förderung. Forschungsergebnisse belegen, dass sie davon enorm profitieren können.»

Auch hier gilt: «Wir sollten den Kindern nicht mehr zumuten als sie ihrem Alter nach verkraften können. Diese Erkenntnis müsste Teil des Mainstreams werden.»

(leicht gekürzt, den vollständigen Text finden Sie in: «Familie ist Zukunft» Nr. 1/2018)

Zur Person:

Prof. em. Margrit Stamm war Lehrstuhlinhaberin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg (CH). 2013 gründete sie das Forschungsinstitut Swiss Education in Bern und ist damit in der nationalen und  internationalen Bildungsforschung tätig. Zudem ist sie Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen. An der Universität Fribourg betreut sie weiterhin Doktorandinnen und Doktoranden. Margrit Stamm ist verheiratet mit Walter Stamm und hat zwei erwachsene Kinder.

Buchempfehlungen:

Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Weshalb entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.
Bodenmann, G. & Klingler, C. (2013). Stark gegen Stress. Zürich: Beobachter Edition.

Zu den Webseiten:
Margrit Stamm
Schweizerische Stiftung für die Familie

Zum Thema:
Kinderstrafen: Ist Liebesentzug weniger schlimm?
Margrit Stamms Zwischenruf: Wie ist ein guter Vater wirklich?
Studie zur Frühförderung: Die intakte Familie fördert Kinder am besten

Datum: 09.05.2018
Autor: Fritz Imhof / Margrit Stamm
Quelle: Livenet / Schweizerische Stiftung für die Familie

Werbung
Livenet Service
Werbung