Psychoanalytiker spricht Klartext

Brauchen wir Religionen?

In der Berner Tageszeitung «Der Bund» brachte ein Leser die Frage auf, ob Religionen in der heutigen Zeit noch als Grundlage für das Zusammenleben taugten oder ob sie nicht mindestens ein Update brauchten. Die Antworten eines Psychoanalytikers sind bemerkenswert.
Der Koran und die Bibel

«Wie die Geschichte lehrt, haben Religionen mehr Leid als Segen für die Menschheit gebracht.» Mit dieser immer wieder kolportierten Behauptung beginnt Leser W.S. seine Anfrage und fährt fort: «Könnten nicht die naturwissenschaftliche Aufklärung und eine grundlegende Humanität eine allgemeine, verbindliche Grundlage für das Zusammenleben der Menschheit bilden? Warum werden Bibel, Koran und Thora als ewige Wahrheiten angepriesen – Bücher, die vor circa 1000 Jahren aus der Sicht damaliger Verhältnisse entstanden sind? Warum kann man nicht ein Upgrade dieser Bücher erstellen, das naturwissenschaftliche Widersprüche und die Verteufelung der Sexualität bereinigt? Eine Utopie?»

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch «Fragen zur Philosophie» des Alltagslebens. Seine Antworten auf diese Anfrage im «Bund» vom 19. Juli sind es wert, vollumfänglich wiedergegeben zu werden.

Lieber Herr S.

Sie meinen es gewiss gut mit der Welt; dennoch muss ich Ihnen in allem widersprechen, was Sie in Ihren Fragen voraussetzen.

  • Erstens: Ob die Religionen für die Menschheit mehr Leid als Segen hervorgebracht haben, bezweifle ich. Nur schon im Hinblick auf die Leichenberge des 20. Jahrhunderts, die atheistische Diktaturen aufgehäuft haben (Mao, Pol Pot, Hitler, Stalin), scheint mir das von Religionen verursachte Elend nicht zum Schrecklichsten zu gehören, unter dem die Menschheit gelitten hat.
  • Zweitens: Es gibt einen religiös motivierten Obskurantismus wie den Kreationismus. Aber zur neueren Geschichte gehören auch die Eugenik und der naturwissenschaftlich geadelte Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts.

    [Kommentar: «Obskurantismus» bedeutet eine zweifelhafte Lehre, die die Wahrheit verdunkelt. «Eugenik» ist die Lehre von der Rassenhygiene mit dem Ziel, positive Erbanteile der Bevölkerung zu fördern und negative auszumerzen. Zu ihren Vertretern gehörten u.a. Julian Huxley, D. H. Lawrence, George Bernard Shaw und H. G. Wells. ] 

  • Drittens: Die heiligen Bücher, von denen Sie sprechen, sind nicht vor «circa 1000 Jahren» entstanden. Die kanonisierte Fassung des Neuen Testaments ist etwa 1600 Jahre alt, die erste Niederschrift des Korans 200 Jahre jünger, die Thora als erster und wichtigster Teil der hebräischen Bibel (die ihrerseits Teil der christlichen Bibel ist) dürfte in schriftlicher Form etwa 3000 Jahre alt sein, ihre mündliche Überlieferung reicht viel weiter zurück.

  • Viertens: Was sollte in einem «Upgrade» denn stehen? Seid a) lieb zueinander; im Übrigen gelten b) der jeweils aktuelle Stand der Forschung sowie c) die sexualkundlichen Lernziele des Lehrplans 21?

Verabsolutierung des gutmeinenden Zeitgeistes

Peter Schneider schliesst seine Antwort:

Ihre Utopie erscheint mir wie eine Neuauflage des 'Kults der Vernunft', der im nachrevolutionären Frankreich der 1790er-Jahre das Christentum ersetzen sollte, aber auch des Projekts des 'utopischen' Sozialisten Henri de Saint-Simon, der die Religion durch Wissenschaft ersetzen wollte. Die Pointe solcher Versuche ist, dass der vermeintliche Befreiungsschlag, mit dem man der Geschichte entkommen möchte, nur in eine Verabsolutierung des herrschenden gutmeinenden Zeitgeists münden kann. Weil das an die Stelle der Tradition gesetzte Konstrukt sich aber seiner eigenen Geschichtlichkeit nicht mehr bewusst ist, wird es dümmer, als jede Religion es jemals gewesen ist.»

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Datum: 22.07.2017
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Der Bund

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