Der «Hodscha Effendi»

Haben Gülens Anhänger wirklich geputscht?

Der türkische Präsident Erdogan beschuldigt seinen früheren Weggefährten Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli. Was ist daran, und wer ist Gülen überhaupt?
Fethullah Gülen bei Papst Johannes Paul II. im Vatikan 1998

«Wer Fethullah Gülen schon näher aus der Zeit kennt, als er noch in der Türkei am asiatischen Ufer des Bosporus lebte, kann ihn nicht für den Drahtzieher von allem und jedem halten, was ihm jetzt politisch von Erdogan vorgeworfen wird», stellt der Nahostexperte Heinz Gstrein auf Anfrage von Livenet fest. Er weiss sich dabei vom britische Türkei-Experte Gareth Jenkins unterstützt, der feststellt: «Die Gülenisten haben den Putschversuch vielleicht angestossen, aber es waren sehr viele andere Generäle beteiligt. Von vielen Verhafteten ist bekannt, das sie hartgesottene Kemalisten sind», ergänzt Jenkins. Doch in den türkischen Medien werde das Thema gemieden, weil die Regierung keine zweite Front neben den Gülenisten haben wolle.

Gülen war mit Schaffung von raiffeisenähnlichen Islambanken, Medienkonzernen in Form von Pressvereinen und einem enormen Privatschulwesen – sie alle wurden ihm von Erdogan in den letzten drei Jahren weggenommen – ein überaus tüchtiger Unternehmer. «Verschwörer und Umstürzler – das passt aber nicht zu Gülen, der sich ebensowenig von Erdogans Staatsraison vereinnahmen lässt», betont Gstrein. Seine Stärke sei der gewaltlose Widerstand.

Ein Jünger des Mystikers Said Nursi

Gülen schloss sich während seiner Ausbildung zum Imam der «Lichtbewegung» (Nurculuk) von Said Nursi (1884-1960) an. Der osmanisch-kurdische Mystiker, den die moderne Türkei anfangs geehrt, dann aber umso mehr verfolgt hat, trat für Demokratie im europäisch-westlichen Sinn ein. Said Nursis Lehren sind in 14 Büchern, die etwa 6000 Seiten umfassen, ausgeführt. Er plädierte zum Beispiel für die Trennung von religiösen und politischen Führungsämtern. Religion sei Angelegenheit des individuellen Gewissens und somit Privatsache.

Vom Imam zum Begründer einer weltweiten Bildungsbewegung

1959 wurde Gülen Imam in Edirne (Adrianopel). 1966 wurde er nach Izmir (Smyrna) versetzt, wo er Nursis Lehren in die Praxis umzusetzen begann. Einfluss übte auf ihn auch der islamische Modernismus der vorletzten Jahrhundertwende aus, zum Beispiel der Ägypter Muhammad Abduh mit seiner Parole: «Besser Schulen bauen als Moscheen». Seit den achtziger Jahren begannen seine Anhänger damit, in der Türkei Schulen zu gründen.

Später kamen Schulen in der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, aber auch in Westeuropa dazu. Durch Predigtreisen wuchs seine Anhängerschaft in der Folge stark, insbesondere unter Ober- und Hochschülern, die er inhaltlich verstärkt ansprach. 1999 übersiedelte er in die USA, um den internationalen Charakter der von ihm begründeten «weltweiten islamischen Bildungsbewegung» zu unterstreichen.

Wirtschaftliche Bedeutung

Zur Gülen-Bewegung gehörten vor dem Putschversuch ausserdem zahlreiche Unternehmen. Viele Institutionen waren von ihm beeinflusst. Zu diesen gehörten neben Privatschulen und -universitäten wie die Fatih-Universität in Istanbul Bildungsvereine, Radio- und Fernsehsender, eine Nachrichtenagentur, die Bank Asya, Versicherungen wie die Işık Sigorta, Medienunternehmen wie die World Media Group, Verlage und Tageszeitungen wie die auflagenstärkste Zeitung der Türkei Zaman. Dazu zwei Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen, Hochschulvorbereitungsklassen, Wohnheime, ein Unternehmerverband sowie Gewerkschaften.

Die Zahl der Mitglieder der Gülen-Bewegung ist schwer zu schätzen. In der Türkei dürften ihr 10-15 % der Bevölkerung angehören oder nahe stehen – viel zu wenig, um einen politischen Umsturz durchzuführen.

Christenfreundliche Bewegung?

Gülen, alias «Hodscha Effendi» hat sich besonders in den 1990er Jahren gezielt um Kontakte mit christlichen Persönlichkeiten bemüht: So mit Patriarch Bartholomaios I. und 1998 sogar um eine Privataudienz bei Papst Johannes Paul II. Er suchte aber kaum Kontakte zu evangelischen Christen in der Türkei. Gülenisten meiden sogar jede Tischgemeinschaft mit Nicht-Muslimen. Als 1997 eine Gülenisten-Delegation nach Wien und Rom reiste, um das Treffen mit dem Papst vorzubereiten, wurde nur bei ihren Anhängern gespeist.

Zum Thema:
Same der Versöhnung gesät: Türkische Christen bitten Armenier um Vergebung
Nur zum Schutz?: Türkische Regierung verstaatlicht Kirchen
Die Türkei und die EU – religiöse Prägungen und Machtpoker
Unsichere Zukunft: Schwarzer Wahltag für die Christen in der Türkei

Datum: 26.08.2016
Autor: Heinz Gstrein/ Fritz Imhof
Quelle: Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung