Traumatisierte Flüchtlinge

Es braucht mehr Kulturvermittler und weniger Psychiater

Fana Asefaw ist Kinder- und Jugendpsychiaterin mit eritreischen Wurzeln. Sie hat viel mit traumatisierten Flüchtlingskindern zu tun. Wenn es um Schulprobleme geht, fordert sie eine Alternative zur Psychiatrisierung.
Kulturschule GPMC
Fana Asefaw
Minh Son Nguyen
Simonetta Sommaruga

Fana Asefaw ist nicht nur leitende Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie in der Psychiatrischen Klinik Littenheid, sondern bietet auch kostenlose Sprechstunden für hilfesuchende Flüchtlingsfamilien an. Nach ihren Erfahrungen werden auffällige Kinder in der Schule zu schnell an die Psychiatrie verwiesen. Diese könne aber oft nicht die richtigen Hilfestellungen anbieten und sei erst noch zu teuer. Besser wäre es, mehr Kulturvermittler einzusetzen, die das Vertrauen der Kinder gewinnen können und zwischen ihnen und ihren Eltern sowie mit der Schule vermitteln können. Asefaw begründete ihre Forderung an einer Tagung der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) am Dienstag in Bern.

Postmigratorische Stressfaktoren

Laut der Fachärztin, die mit einer Dissertation über die Beschneidung von Frauen Aufsehen erregt hat, sind die meisten Flüchtlinge trotz den Strapazen überwiegend psychisch gesund. Bei vielen Flüchtlingskindern überwiegen laut ihrem Befund «postmigratorische Stressfaktoren», also Belastungsstörungen, die aufgrund der schwierigen und unsicheren Existenz als Asylsuchende in der Schweiz und andern europäischen Ländern entstanden sind. Es handle sich bei den Flüchtlingsfamilien meistens um resiliente Menschen, die aber im Zielland auf eine für sie schwierige Umwelt gestossen seien.

Wenn das Dorf nicht mehr miterzieht

Daher seien Mütter oft überfordert, weil sie die Stütze der (Gross)Familie mit ihrer patriarchalischen Struktur verloren haben. Bei Kindern seien sie sich gewohnt gewesen, dass das ganze Dorf miterzieht, hier sei sie auf sich allein gestellt, vielleicht auch zusammen mit einem Mann, der wegen enttäuschter Hoffnung auf Arbeit in den Alkohol flüchte. In den Sprechstunden redeten diese Menschen daher oft lieber über die aktuellen Probleme, insbesondere mit intervenierenden Behörden, als über die schwierige Vergangenheit und die Flucht.

Aus dem Plenum kam dazu die Rückmeldung, dass Kulturvermittler oft nur temporär arbeiten, bis sie eine anerkannte und besser bezahlte Ausbildung im Sozialbereich haben. Es brauche dazu eine bessere Anerkennung und Zertifizierung dieses Jobs.

Nicht in der Illusion stecken bleiben

An der Tagung in Bern wies Minh Son Nguyen, Neuenburger Anwalt und Rechtsprofessor mit vietnamesischen Wurzeln, darauf hin, dass die Schweiz bezüglich Umgang mit Flüchtlingsfamilien Defizite aufweise, wenn es um die Erfüllung internationaler Verpflichtungen gehe. Statt Abschreckungsmassnahmen zu treffen, tue das Land besser daran, für Migrationsfamilien gute Voraussetzungen zu ihrer Integration zu schaffen.

Gianni D'Amato, Professor für Migration und «Citizenship Studies» an der Universität Neuenburg, unterstützte ihn darin: Die Schweiz pflege nach wie vor die Illusion, dass die Migranten irgendwann wieder zurückreisen und man sie daher nicht fördern solle. Gerade dieses Verhalten sei aber für die Probleme mit den Migranten aus dem Maghreb in Frankreich verantwortlich.

Ein erster Schritt

Zuvor hatte Bundesrätin Simonetta Sommaruga darauf hingewiesen, dass inskünftig arbeitsfähige Flüchtlinge sich bei den RAVs melden können und den Arbeitgebern gemeldet werden, wenn die Voraussetzungen für den Inländervorrang bei Stellenausschreibungen gegeben sind. Sie wies auch darauf hin, dass die Kantone ihre Aufgabe bei der Integration sehr unterschiedlich angehen und erfüllen. Es gebe aber Kantone, die für andere als Vorbild gelten können und bei der Arbeitsintegration doppelt so erfolgreich seien wie andere.

Hinweis

In Thun hat die Freikirche GPMC eine Kulturschule eröffnet, die Menschen Kurse anbietet, die Migranten bei der Integration zur Seite stehen wollen. Wir haben darüber berichtet.

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Datum: 22.06.2017
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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